Kontext

Mykola Kulisch und Les Kurbas im 21. Jahrhundert

2013 eröffnete das Franko-Theater in Kyjiw die neue Spielzeit mit der Premiere des Stücks Kvitka Budjak – Distelblüte von Natalia Vorozhbyt. Ein zeitgenössisches Stück für die Ukraine der Gegenwart, nach den Motiven des Stücks Maklena Grassa von Mykola Kulisch, welches im September 1933 am Theater Beresil in der Regie von Les Kurbas Premiere hatte.

Der Dramatiker Mykola Kulisch und der Regisseur Les Kurbas gelten heute allgemein als die bedeutendsten Vertreter des ukrainischen Theaters. Am 03. November 1937 wurden sie als Opfer des stalinistischen Terrors zusammen mit zahlreichen anderen politischen Gefangenen erschossen. Zu Ehren des zwanzigsten Jahrestages der Oktoberrevolution. Die Hinrichtungsstätte in einem Wald in Karelien wurde erst 1997 wiedergefunden.

1925 lernten sich Kulisch und Kurbas in Charkiw kennen, es begann eine produktive Zusammenarbeit und Freundschaft, die bis zu ihrer Verhaftung andauern sollte. Gemeinsam entwickelten sie eine völlig neue Ästhetik und brachen mit überholten Theatertraditionen, die Kurbas bereits in seinem „Theaterbrief“ von 1918 aufs Korn nahm:

Wie soll es denn jemand, der noch ein kleines bisschen Geschmack hat, im zeitgenössischen Theater aushalten? Da spielt also eine Schauspielerin. Man hört ihr zu … In Ordnung … Realistisch, einfach. Das ist gerade ganz angesagt. Aber schon beginnt ein Melodrama, in das der volkstümliche Ton des Partners einfällt. Und wieder kurz darauf enden beide mit einem Akkord von exzellenter Shakespeare’scher Pathetik und etwas wie unklarem Bühnenimpressionismus.

Fügen Sie nun der Dreidimensionalität der Schauspieler, der Bühne und der Requisiten noch zweidimensionale Kulissen hinzu, echtes gelbes Laub, das von diesen scheußlich bemalten „Waldbögen“ fällt, vor dem Hintergrund eines ebenso anschaulich wie aufdringlich gemalten Bühnenbilds, dazu noch eine mit Details überfrachtete Ausstattung, ein unentwirrbares Chaos von Gesten, idealerweise nur typische, „echtes“ grünes Mondlicht – dann werden Sie die Verzweiflung eines Freundes von uns und seine Worte voll und ganz verstehen: „Nudeln, Brei – alles, was ihr wollt, aber bloß keine Kunst“.1

Die künstlerische Heimat von Kurbas und Kulisch, das 1922 gegründete freie Theater Beresil, war der Versuch, eine Gemeinschaft Gleichgesinnter zu schaffen, ohne Hierarchien und nur der Kunst verpflichtet. Maklena Grassa, ein Stück, das für Natalia Vorozhbyt auch nach achtzig Jahren nichts von seiner Aktualität eingebüßt hatte, sollte Kulischs letztes Stück sein, das auf der Bühne des Beresil seine Premiere erlebte. Es spielt in Polen während der Wirtschaftskrise: Ein bankrotter Makler gibt seine Ermordung in Auftrag und wird am Ende von der dreizehnjährigen Maklena erschossen. Allerdings waren neben der Kritik an den gesellschaftspolitischen Umständen der Zeit, in der das Stück spielt, auch die Anspielungen an die neue Sowjetrealität mehr als deutlich:

Aber nun haben neue Musiker die Bühne betreten.

Auf staatlichen Saiten spielen sie dem Diktator schmeichelnde Symphonien, und dafür haben sie Dirigentenposten in der Kunst bekommen.2

Welche Folgen die Inszenierung für das Theater Beresil und die weitere Arbeit von Kulisch und Kurbas haben würde, war nicht nur Kurbas bewusst. Im September 1933, kurz vor der Premiere, sagte er:

Freunde, vor uns liegt die letzte Prüfung. In zwei Tagen ist die Premiere, vielleicht die letzte in unserer gemeinsamen Arbeit. Vielleicht bin ich dann nicht mehr bei euch. Deshalb bitte ich euch, daran zu denken, was wir vorhatten, was unser Ziel war. Damit ihr mir später keine Vorwürfe macht. Ich wollte nur eins: Gemeinsam mit euch ein Theater aufbauen.3

Die Inszenierung wurde verrissen und Kurbas als künstlerischer Leiter des Beresil abgesetzt. Im Dezember 1933 wurde Kurbas verhaftet, im Dezember 1934 Kulisch. Es sollte fast dreißig Jahre dauern, bis Maklena wieder auf ukrainischen Bühnen zu sehen war. Im Repertoire von Theatern außerhalb der Ukraine sind Inszenierungen von Kulischs Stücken nach wie vor die Ausnahme.

Natalia Vorozhbyt ist als Autorin derzeit gefragter denn je, sie scheint endlich auf den deutschsprachigen Bühnen angekommen zu sein. Es bleibt zu hoffen, dass das gegenwärtige bittere konjunkturelle Interesse an der ukrainischen Kunst und Kultur in ein kontinuierliches und tiefgründigeres Interesse übergeht und der Stellenwert von Kurbas‘ Arbeit im Kontext der internationalen Avantgarde und Kulischs Texten in der internationalen Dramatik des zwanzigsten Jahrhunderts auch außerhalb der Ukraine und der ukrainistischen Forschung wahrgenommen wird.

1 Teatral’nyj lyst, in: Les Kurbas: Filosofija teatru, hg. von Mykola Labins’kyj, Osnovy 2001.
2 Aus: Mykola Kuliš: Maklena Grasa.
3 Pered perehljadom „Makleny Grasy“, in: Les Kurbas: Filosofija teatru, hg. von Mykola Labins’kyj, Osnovy 2001.