Texte von Les Kurbas

Gedanken und Projekte

Es gibt Dinge, die keinen Beweis mehr benötigen, die sich von selbst verstehen und zum Axiom geworden sind.

Niemand wird bestreiten, dass das Laientheater eine nützliche Einrichtung ist, dass es, indem es das professionelle Theater vertritt, der Landbevölkerung kulturelle Unterhaltung bietet, zu ihrer Entwicklung beiträgt, sie kultivierter macht, empfänglicher für das Schöne und für fremdes Leid, sie zum Nachdenken und zur Reflexion anregt. Dies und nicht mehr ist die Bedeutung, die das Laientheater für die Zuschauer auf dem Lande hat. Es hat die gleiche Funktion wie das professionelle Theater in größerem Maßstab. Es vertritt das professionelle Theater in den Dörfern und Kleinstädten, weil es dort bei uns noch kein professionelles Theater gibt, und selbst wenn dies bald der Fall sein sollte, dann sicher nicht in einer Größenordnung, die den Bedarf auch nur annähernd decken könnte. Das Laientheater wird gebraucht und verdient große Aufmerksamkeit von Seiten unserer gesellschaftlich Engagierten, denn es gehört zu den wichtigsten Mitteln der Kultur und Bildung für diejenigen, die Licht in die dunklen Winkel bringen.

Neben dieser Bedeutung, die es in Hinblick auf die Zuschauer hat, ist es natürlich auch für die Laienschauspieler auf dem Dorf selbst von besonderer Bedeutung. Ich erwähne die Landbevölkerung, weil es meiner Meinung nach keinen Sinn hat, dass die Intelligenzler auf dem dunklen, nicht darauf vorbereiteten Dorf allein und aus eigener Kraft Theater machen. Äußerungen wie „die Herrschaften zeigen uns eine Komödie“ oder „die wollen uns täuschen“ wären eine unangenehme Überraschung und ein unerwünschter Dank für die selbstlose ideelle Arbeit. Deshalb scheint es mir, dass zumindest am Anfang mit vereinten Kräften Theater gemacht werden sollte – sowohl der Intelligenzler als auch der Landbevölkerung. Auch damit klar wird, dass das eine würdige Arbeit sowohl der einen als auch der anderen ist.

Aber am wichtigsten ist Folgendes: Den Leuten auf dem Land, die in den Laienspielgruppen mitmachen sollen, muss erklärt werden, dass sie gesellschaftliche Arbeit verrichten, dass sie ihre Arbeit (und nicht ihr Vergnügen) für den kulturellen Aufschwung unserer Dörfer einsetzen, für den Aufschwung aus dem Verfall, in den sie die zaristische Moskauer Regierung getrieben hat. Dass sie zu Mitgliedern einer Gemeinschaft der auf nationaler Ebene Arbeitenden werden.

Wenn wir in ihnen dieses Bewusstsein wecken, so entwickeln wir damit zugleich ein Gefühl der Zusammengehörigkeit ihrer Arbeit mit der großen Sache des Aufbaus einer einigen ukrainischen Nationalkultur. Ihre Zusammengehörigkeit mit denen, die am anderen Ende der Ukraine das Gleiche tun oder Proswita-Zweigstellen gründen oder Bücher und Zeitschriften herausgeben. Wir entwickeln ihr Interesse am gesamtnationalen Leben. Gesellschaftliche Arbeit erzieht, gesellschaftliche Arbeit verpflichtet. Und wenn wir bewusste Arbeiter wollen, Bauern mit Eigeninitiative, mit der Bereitschaft, zum Wohl der Allgemeinheit zu arbeiten, dann kann der Weg über Laienspielgruppen meiner Meinung nach viel zum Erreichen dieses Ziels beitragen.

Wie dem auch sei, das Laientheater auf dem Lande muss gefördert werden. Nicht unbedingt sofort und vor allem anderen. Wenn die zur Zeit dringenderen Dinge erledigt sind, wenn es im Dorf gesellschaftliche und politische Organisation und „Proswita“ gibt, wenn auch in den Nachbardörfern alles getan ist, dann steht als Aufgabe vor dem ukrainischen Intelligenzler auf dem Land das Theater.

Die Schwierigkeiten sind groß. Entweder gibt es keinen Raum oder keine Kostüme oder kein Stück oder keine Noten. Im Alleingang ist es schwierig, am besten tut man sich zusammen. Am besten treffen sich die Organisatoren, die Vorstände der Proswita-Zweigstellen oder der Theaterzirkel in der Bezirksstadt, gründen dort eine zentrale Institution, wo man dann sowohl ein Stück als auch Kostüme bekommen kann, Kulissen ausleihen und sich über alles Nötige beraten. Man könnte einen Teil der Einnahmen für eine zentrale Gesellschaft aufwenden, man könnte einen gemeinsamen Regisseur engagieren. Vieles ist möglich und notwendig. Sich um Volkshäuser auf den zu Dörfern kümmern. Die Kooperativen könnten hierzu einen großen Beitrag leisten.

Und wenn all dies erreicht ist, was für eine großartige und nützliche Organisation wird es dann in unserer großen Ukraine geben! Und wie viel Gutes kann man davon erhoffen! Darüber lohnt es nachzudenken.

 

Mai-Juni 1917.

(erschienen in: Theaternachrichten, 1917, Nr. 5-6)


 

Theaterbrief

Hochverehrte, teure Frau Lilli!

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Und jetzt dazu, wonach Sie in Ihrem letzten „bewegten“ Brief fragen.

Eigentlich, … sollten Schauspieler nicht über ihre Kunst schreiben. Das sagt unter anderen die russische Kritikerin Boschena Witwizkaja in Zusammenfassung des Vortrags irgendeines Schauspielers über das Wesen der Schauspielkunst. Sie werden dann langweilig und trocken. Sie sollten durch ihr Schaffen auf der Bühne zum Publikum sprechen, ihr Verständnis von Kunst nur demonstrieren und öffentliche Überlegungen Vertretern anderer Berufe überlassen, Menschen mit einer besonderen Verfasstheit von Hirn und Seele.

Vielleicht ist dem auch so. Denn die exakten Wissenschaften, die Philosophie, alles, was nicht direkt Gefühl und Phantasie anspricht, mögen Schauspieler tatsächlich nicht. Sie mögen keine Analyse. Obwohl auch in den „exakten“ Wissenschaften eines Kainz oder Talma viel von einer Grundbildung die Rede ist, obwohl Coquelin nicht der einzige Schauspieler war, der theoretische Schriften hinterlassen hat, obwohl …

Aber das sind nicht unsere Maßstäbe und da auf der Grundlage der aktuellen Praxis konstatiert wird, dass dem so sei, so sei es eben so. Ich werde weder Aufsätze schreiben noch Vorträge halten (obwohl bei uns über das Theater nichts geschrieben wird, von den überwiegend ungebildeten Rezensionen einmal abgesehen). Eher schreibe ich irgendwann über Politik oder den Niedergang der Bienenzucht in der Ukraine.

Aber Ihnen, scharfsinnige, zarte Frau Lilli, schreibe ich, was ich dazu denke, weil ich weiß, dass Sie das nicht zu Ende Gesagte herausspüren und das schlecht Gesagte lesen werden, wobei Sie die Augen leicht mit den Wimpern bedecken. Zu meinem Glück sind sie lang und dicht, diese samtenen Wimpern.

Ich sitze bei einer Tasse wunderbar aromatischen Kaffees und blicke in den dicken Rauch der Zigarette.

Und sehe:

Da stimmt etwas nicht im theatralen Zarenreich. Eleonora Duse sieht, dass da etwas nicht stimmt und rät nicht mehr und nicht weniger, als alle Schauspieler aufzuhängen und das gesamte Theater zu vernichten, bis eine neue, unverdorbene Generation kommt. Georg Fuchs beklagt, dass gerade die kultiviertesten Leute das Theater jetzt hassen würden. Gordon Craig verkündet, dass sich das europäische Theater in Agonie befindet. Anselm Feuerbach begründet seine negative Einstellung zum modernen Theater so: „Ich hasse das moderne Theater, weil ich scharfe Augen habe und über Pappendeckel und Schminke nicht hinauskomme. Ich hasse den Dekorationsunfug, denn er verdirbt das Publikum und verscheucht den letzten Rest von Kunstgefühl“ (ich zitiere, wie auch sonst durchweg in diesem Brief, ungenau und aus dem Gedächtnis).

Herrn Ajchenwald hat man so weit gebracht, dass er jetzt einfach jedwedes Theater verleugnet. Und nicht nur diejenigen, deren Worte uns, ihren Zeitgenossen, noch am ehesten bekannt sind. Fragen Sie Evreinov, den unbestritten größten Theaterwissenschaftler aller Zeiten in Osteuropa, er nennt Ihnen eine ganze Schar Verneinender und Unzufriedener mit lauten, autoritativen Namen.

Aber wozu brauchen wir die eigentlich? Haben wir beide nicht im zweiten oder dritten Akt der „Versunkenen Glocke“ einer anständigen, geschätzten Moskauer Truppe die Flucht ergriffen? Erinnern Sie sich?

Und können Sie sich noch an Ihre Enttäuschung in dem gelobten Moskauer Künstlertheater erinnern?

Der Realismus, nicht einmal zu Ende getrieben, das größte antikünstlerische Phänomen unserer Tage, hat allmächtig die Herrschaft im Theater übernommen und lähmt jeden schöpferischen Reflex. Den Schauspielern, also der unbegabten schauspielernden Masse, kommt er gelegen. Eine ganze Schar von Kopisten und Imitatoren des Lebens kann leicht Lorbeeren ernten, indem sie mit ihrem Spektakel die seelisch stumpfen Kleinbürger, deren Frauen und Töchter begeistern, wobei die Lorbeeren die gleichen sind, die sich ein gewitzter Handwerker verdient, der ein künstliches Maschinchen erfunden hat: Man braucht bloß daran zu drehen und schon hat man die völlige Illusion quakender Frösche oder den Lärm einer Lokomotive.

Ach! Wie echt! Keine Bühne, sondern das richtige Leben!

Nicht zu Ende geführter Realismus, bar jeder Form, jeder Geste, jedes Wortes, äußerst stillos, vermischt mit den Überbleibseln von Bühnentraditionen längst vergessener Epochen, weinerlicher Pathetismus, vermischt mit echten, abfotografierten Lebensformen – das sind die Schablonen, in denen die zeitgenössische Schauspielkunst erstarrt. Vom Symbolismus ganz zu schweigen. Den gab es in der Schauspielkunst so gut wie nicht, denn weder das provinzielle Einwickeln noch das Meyerhold’sche kalte Schlagen kann man als Schauspielform des Symbolismus bezeichnen.

Und wie soll es denn jemand, der noch ein kleines bisschen Geschmack hat, auch im zeitgenössischen Theater aushalten? Da spielt also eine Schauspielerin. Man hört zu … In Ordnung … Realistisch, einfach. Das ist gerade ganz angesagt. Kurz darauf ein Melodrama, in das als angenehme Assonanz der volkstümliche Ton des Partners einfällt. Und wieder kurz darauf enden beide mit einem Akkord von exzellenter Shakespeare’scher Pathetik und etwas wie unklarem Bühnenimpressionismus.

Fügen Sie nun der Dreidimensionalität der Schauspieler, der Bühne und der Requisiten noch zweidimensionale Kulissen hinzu, echtes gelbes Laub, das von den bemalten widerlichen “Waldbögen“ fällt, vor dem Hintergrund eines ebenso anschaulich und aufdringlich gemalten Bühnenbilds (Erinnern Sie sich an die „Herbstgeigen“?), dazu noch eine mit Details überfrachtete Ausstattung, ein unentwirrbares Chaos von Gesten, idealerweise nur typische, „echtes“ grünes Mondlicht – dann werden Sie die Verzweiflung eines Freundes von uns und seine Worte voll und ganz verstehen: „Nudeln, Brei – alles, was ihr wollt, aber bloß keine Kunst“.

Einst, im Frühling, sagte ich zu Ihnen: „Der Schauspieler ist glücklicher als die Künstler der „dauerhaften“ Künste. Wenn seine Kunst auch mit seinem Tod zu Ende ist, zumindest als individuelles Werk, als Schaffen zu Ende ist, so lastet auf ihm doch nicht so sehr das Gewicht der Traditionen und alten Vorbilder. Er ist, mehr als der Maler oder Musiker, unabhängig in seinem Schaffen und muss seine Individualität nur gegen vorgefertigte Formen der einen, seiner eigenen Generation verteidigen“.

Ich bereue, so gedacht zu haben. Das Leben erzählt etwas ganz anderes. Der Maler oder der Musiker entwickelt sich an den alten Meistern, er sieht im Museum deren Kampf um künstlerische Eigenständigkeit, sieht die Wege ihres Ringens, sieht den Effekt: Einen Schritt vor, einen Schritt zu sich selbst, zu seinem künstlerischen „Ich“, vom mehr oder weniger unterschiedlichen Grund seiner Gegenwart und Vergangenheit.

Er verbrennt seinen Meister. Er muss nicht lernen, indem er ihn kopiert. Aber er sieht den Unterschied, sieht, was schon getan ist, dass der zurückgelegte Weg bereits zurückgelegt ist, seinen schöpferischen Bedürfnissen stellen sich bereits neue Fragen, die gelöst werden wollen und die er lösen wird, bewaffnet mit der Erfahrung der Alten und auch mit der Kritik an ihnen.

Für die Schauspielkunst gibt es keine Vergangenheit. Das gilt in gewissem Maße auch für das Theater. Vom Spiel der toten Schauspieler sind uns nur in ihre Biografien eingeflochtene allgemeine Beschreibungen des Eindrucks, den sie auf das Publikum machten, geblieben. Zudem auf ein Publikum, dessen Entwicklungsstand, Empfindsamkeit und „Theatererfahrung“ wir heute nicht mehr nachvollziehen können. Nicht eine verstorbene Intonation, nicht eine mimische Regung ist durch die Jahrhunderte zu uns durchgedrungen. Anhand des allgemeinen Stils ihrer Epoche müssen wir sie uns auf der Bühne vorstellen. Ach, Frau Lilli! Das ist doch das Gleiche, als wolle man ein Werk von Leonardo da Vinci anhand der Beschreibung eines Balls im Palast der Medici rekonstruieren. Damit ist doch alles verloren, der ganze Wert der Betrachtung des Originals, sein ganz eigenes Erspüren und Begreifen. Es gibt fast nichts, worauf man aufbauen könnte. Denn obwohl wir Shakespeare, Molière und Lope de Vega, das uralte Mysterienspiel oder Intermedium spielen und sogar restaurieren, bleiben wir doch Kinder unserer Zeit, unserer „Verfahren“, unseres Stils, und über eine bestimmte Grenze der Lossagung von uns selbst kommen wir nicht hinaus. Die alten Toten werden nie unmittelbar zu uns sprechen.

Daher der Eindruck, dass wir auf der Stelle treten. Wir können nicht herausfinden, ob Garrick und Kainz genauso weit voneinander entfernt waren wie Raffael und Čiurlionis.

Bach und Wagner. Wir können sogar, wenn wir von einem annähernd gleichen Repertoire ausgehen, sagen, dass sich von Garrick zu Kainz wenig verändert hat, denn unsere Vorstellungskraft, die den Geist Garricks wachruft, gelangt nicht über eine bestimmte Grenze hinaus – die Grenze der Kinder ihrer Zeit.

[…]

 

7. Oktober 1918.

(erschienen in: Literarisch-kritischer Almanach, 1918, Nr. 1)

 


 

Die Frage des Raumes, der Zeit und des Rhythmus in der Kunst

Ohne Praxis ist alles wertlos. Man muss nicht nur wissen, sondern auch können. Man kann nicht arbeiten ohne die Gewissheit, dass man eine Fertigkeit erlernen kann, allenfalls eine Grundlage schaffen kann, die in der schöpferischen Arbeit einen Orientierungspunkt bietet. Das ist sehr wichtig.

Wir hatten uns darüber verständigt, dass alles, was existiert, in einer Räumlichkeit existiert. Dieses räumliche Moment des Seins und seine Darstellung auf der Bühne haben wir untersucht.

In der Kunst muss eine Handlung so dargestellt werden, dass sie den Zuschauer erreicht, dass sie auf die dem Menschen eigene Art der Wahrnehmung gerichtet ist. Wir haben Dinge analysiert und dabei von ihrem Inhalt abstrahiert. Wir haben verschiedene Vergleiche angestellt: Gegenstände, Menschen, Lebewesen und große Anlagen; ein Zug, ein Bahnhof, ein Tisch.

Allenfalls sollte immer, wenn von der Räumlichkeit einer Aufführung die Rede ist, auch formuliert werden, was die Sache an sich ist. Man kann das so formulieren: Räumlichkeit ist das Sein der Natur, abstrahiert von ihrem Inhalt. Der Bahnhof ist nicht als Ort interessant, wo Züge einfahren, wo sich viele Menschen aufhalten, wo es Taschendiebe gibt, eine Kasse, eine Gepäckaufbewahrung, einen Imbiss und Ähnliches, der Bahnhof nicht als Bild mit einem bestimmten lebenspraktischen Zweck, sondern der Bahnhof als System von Flächen, die die Räumlichkeit in bestimmten Bereichen begrenzen. Der Tisch wird als Räumlichkeit wahrnehmbar, wenn wir in diesem Denken das Sein seiner Teile betrachten. Aber entsteht dann in unserem Bewusstsein das Bild eines Tisches im Sinne eines konkreten Gegenstandes? Die Kategorie der räumlichen Ordnung wird später assoziiert, aber in dem Moment, in dem wir den Tisch betrachten, erfasst unsere Aufmerksamkeit sie nicht.

Ich möchte festhalten, dass es letztendlich überhaupt unmöglich ist, Gegenstände in einer nur einseitigen philosophischen Betrachtung, in der Auflösung des Wesens der Welt anzuschauen.

Hier gibt es ein kleines „Aber“, nämlich dass die Räumlichkeit als Tatsache zu betrachten eine Methode ist, die teilweise aus der Beschränktheit unserer Wahrnehmung der Welt entsteht, daraus, dass wir nicht in der Lage sind, einen Gegenstand in all seinen Eigenschaften zu erfassen. In der Kunst hat diese Tatsache eine umso größere Bedeutung, wird dieses Wesensmerkmal unserer Wahrnehmung umso wichtiger.

Die Kunst ist somit nichts anderes als eine bestimmte Art der zwischenmenschlichen Übermittlung von Vorstellungen. Sie ist eine bildliche Sprache. Es ist unmöglich, die Welt als Einzelteile einer räumlichen Qualität zu betrachten. Die Welt ist nicht der Raum, aber in der Kunst lässt sich der Eindruck erwecken, sie sei der Raum.

Sich gleichzeitig vorzustellen oder wiederzugeben, dass diese Bank Räumlichkeit ist, in der Zeit existiert; hart ist, zum Sitzen dient, dass darauf geschrieben wird, dass sie braun angestrichen ist, dass sie aus Holz ist, dass sie brennt, wenn sie angezündet wird, dass sie zusammengenagelt ist – all diese Qualitäten kann man nicht gleichzeitig wahrnehmen. Wenn das möglich wäre, gäbe es keine Kunst. In der Kunst wählen wir die Eigenschaften aus, die das, was wir zeigen möchten, hervorheben. Man kann nicht einfach sagen, dass die Welt als Räumlichkeit existiert. Sie existiert nur in der Kunst als Raum. Sie existiert auch in der Zeit.

Die Zeit ist die vierte Dimension. Nach Einstein ist die Welt ein Raum-Zeit-Kontinuum. Kontinuum bedeutet, dass etwas ununterbrochen nicht nur im Raum existiert, sondern auch in der Zeit. Wie lässt sich die Zeit bestimmen? Die Zeit ist ein vom Inhalt abstrahierter Zustand ständiger Veränderung der Energie und Materie. Was wollen wir mit dieser Formulierung sagen? Wir wollen sagen, dass wir, während wir den Raum immer wahrnehmen, eine bestimmte Gleichzeitigkeit, ein bestimmtes Sein wahrnehmen, wir die Zeit dann wahrnehmen, wenn wir Veränderungen in diesem Sein wahrnehmen. Wir wissen zum Beispiel, dass diese Bank zwar noch die gleiche ist wie gestern, dass sie sich aber natürlich verändert hat, etwas an ihr hat sich verändert, denn wenn sie hundert Jahre in diesem Zimmer stünde, dann würde sie morsch werden und auseinanderfallen. Irgendeine Veränderung findet also statt. Und so ist es mit allem. Dass die Zeit vergeht, merken wir daran, dass sich alles verändert. Einfache Völker bemerken bei der Betrachtung der Natur Veränderungen in der Bewegung der Sonne und in den Schatten, die mal länger und mal kürzer werden. Der Schatten verändert sich. Der Tag löst die Nacht ab, der Winter den Sommer, der Frühling den Herbst. Die Urmenschen beobachteten das, was später zur Grundlage unserer Zeitrechnung in Monaten, Stunden u.s.w., also dem Wesen der Zeit wurde. Wir bemerken die Zeit dann, wenn wir Veränderungen bemerken. Durch das Zeitgefühl nehmen wir wahr, dass sich die Welt ständig verändert.

Was wäre, wenn es keine Veränderungen gäbe? Das lässt sich nur denken, aber nicht realisieren. Es ist die unabdingbare Natur der Welt, dass sie sich andauernd verändert. Die griechische Philosophie hat dafür den bekannten Ausdruck „Alles fließt, alles verändert sich.“ geprägt.

Es ist das Kontinuum der räumlichen Ordnung, das Veränderung auf Veränderung folgen lässt, das ist das, was wir Zeit nennen. Es ist die Tatsache der Veränderlichkeit. Wenn jemand im Gefängnis eingesperrt ist, wo er keine Veränderungen sieht, spürt er dennoch die Zeit, weil Veränderungen in unserem Organismus spürbar sind. Das Pulsieren des Blutes, der Rhythmus des Atems – das sind Veränderungen, die in uns selbst stattfinden, die physiologischen Prozesse sind eine ständige Veränderung. Das verleiht uns die Gewissheit, dass wir in der Zeit existieren. Die Zeit ist die vierte Dimension des Raumes. Und in der Zeit zu existieren bedeutet für uns, dass wir uns verändern.

Auf der Bühne heißt das für den Regisseur, dass er, da er es mit einem szenischen Werk zu tun hat, dem Zuschauer das Gefühl vermitteln muss, dass sich etwas in erster Linie in der Zeit abspielt, wenn er also in der Inszenierung die Dynamik betonen will, die Basis, die sich verändert, dann muss er in der Organisation des Materials diese Veränderung akzentuieren. Wenn man zum Beispiel eine solche Bewegung macht, eine fließende Bewegung, was ist dann in dieser Bewegung als Akzent wahrnehmbar? Die Veränderung ist nicht sehr bemerkbar.

Dieses „nicht sehr“ ist eine sehr wichtige Sache. Alles hängt davon ab, wie stark eine bestimmte Eigenschaft des Materials akzentuiert wird. Es ist also sehr wichtig, ob „sehr“ oder „nicht sehr“.

Nehmen wir eine andere Bewegung, anders beschaffen, eine schroffe Bewegung. Hier sieht die Sache anders aus. Hier gibt es eine Reihe von Veränderungen, die so zahlreich sind, so vielfältig, dass sie es den Zuschauern nicht gestatten, sich auf etwas anderes als auf diese Veränderungen zu konzentrieren. Aber einige interessiert das nicht mehr, es interessiert vielmehr die Abhängigkeit von der Präsens dessen, was in den Koordinaten der Gleichzeitigkeit und den Koordinaten der räumlichen Ordnung sichtbar wird.

Dem Regisseur stellen sich zwei Aufgaben: Zu akzentuieren, dass die räumliche und die zeitliche Dimension sehr unterschiedlich angelegt sind. Am leichtesten ist die räumlich akzentuierte, als die, die im Raum existiert – etwas anderes ist nicht nötig. Aber da die Bühne ein Raumkontinuum in der Zeit ist, muss sich die Position ändern: Alles sollte sich zeitlich nicht akzentuiert abspielen. Aber es sollte klar werden, dass sich das Bild verändert. Und zwar so, dass das als die Hauptsache wahrgenommen wird, was das Bild ausmacht, und nicht das, was in der Zeit nicht der Betrachtung wert ist.

Mit einem Verstehen der Zeit entwickelt sich natürlich auch ein Verstehen des Rhythmus. Des Rhythmus im Sinne der Musik. Wobei er natürlich allen Künsten eigen ist, weil jeder Gegenstand einen Rhythmus hat. Jedes Ding ist in erster Linie Rhythmus – erst recht in der Kunst. Hier stellt sich die Frage, was Rhythmus ist und wie das zu verstehen sei. Ich werde einige genauere Bestimmungen geben, die nicht nur für die Analyse der Bedeutung der Zeit, sondern auch des Gegenstandes wichtig sind.

Es gibt dafür sehr treffende Bestimmungen: „Rhythmus ist die Einheit von Vielfältigkeiten.“ Oder etwas weiter gefasst: „Rhythmus ist ein für die Erscheinungen charakteristisches System von Akzentuierungen.“

Die erste Bestimmung verweist darauf, dass der Wahrnehmung eines künstlerischen Werkes, also der Wahrnehmung des Rhythmus einer Erscheinung eine bestimmte Einheit zugrunde liegt. Die zweite Bestimmung ist analytischer, sie legt nahe, dass jeder Gegenstand eine eigene Akzentuierung hat. Zum Beispiel diese Bank: Ihre Härte ist weniger stark akzentuiert als die von Eisen. Beim Menschen ist die Nase akzentuiert, es gibt jedoch noch weitere Akzentuierungen: den Bart oder das Kinn, die Haare, den Mund. Aber die Nase ist so stark akzentuiert, dass sie der zentrale Akzent des Gesichtes ist, um den sich die anderen Gesichtsteile gruppieren. Diese Akzentuierung entsteht in unserem Bewusstsein als ein bestimmtes Bild der Vielfältigkeiten, der Rhythmen.

Der Rhythmus in der Zeit, im Verständnis der Zeit, ist ebenfalls ein Wechsel in der Einheit der Vielfältigkeiten. In dem Sinne, dass Tag und Nacht zwei unterschiedliche Zustände sind, mit völlig unterschiedlichen Rhythmen. Tags scheint die Sonne, nachts der Mond. Tag und Nacht sind ihrem Wesen nach verschieden. Zuerst war es Tag, dann kommt die Nacht, auf die Nacht folgt wiederum der Tag. Der Tag bedingt die Nacht und umgekehrt. Das ist wieder das Gesetz des Weltalls, dem wir als Künstler auf Schritt und Tritt begegnen. Das Gesetz der Involution und Evolution.

Das Gesetz der Dialektik: Das eine ergänzt das andere genauso wie Einatmen und Ausatmen. Das eine bedingt das andere. Auf das Einatmen folgt das Ausatmen, das ist ein Akt. Das Wesen der Veränderlichkeit ist somit eine Wellenbewegung. Eine Bewegung, in der ein Aufschwung nur deshalb ein Aufschwung ist, weil darauf ein Abfall folgt. Das Wesen der Veränderlichkeit, das Wesen der Zeit bewegt sich von Aufschwung zu Abfall.

Ich denke, dass aus diesen wenigen Worten das Wichtigste hervorgeht: Was die Basis ist, von der aus klar wird, wie die Zeit auf der Bühne aussieht. Wie sieht die Zeit im Theater aus? Das sind Rhythmus, Metrum und Tempo. Wir können nicht alles Mögliche gleichzeitig wahrnehmen, ohne dass etwas ausgewählt wird, worauf wir unsere Wahrnehmung richten, worauf uns der Künstler in der Kunst und der Zufall im Leben stößt.

Wenn wir mit dem Zug fahren, hören wir ein rhythmisches Schlagen. Das Schlagen der Räder. Habt ihr jemals beim Hören dieses Schlagens versucht, es zu akzentuieren? In der Regel können wir es nicht wahrnehmen, ohne zu akzentuieren. Wenn wir auf das rhythmische Schlagen der Räder hören, dann ist der erste Schlag stärker akzentuiert. Ist er von Natur aus stärker? Wie auch immer wir das wahrnehmen, die Akzentuierung hören wir auf dem ersten Schlag. Wir können nicht wahrnehmen, ohne zu akzentuieren. Wir können nicht gesetzmäßig wahrnehmen, wenn alle vier Schläge gleichzeitig betont sind, denn den ersten von zweien oder dreien erfassen wir so oder so als betontes Moment. Zwei gleichzeitig akzentuierte Veränderungen können nicht existieren. Dieses System der Wellenbewegung im Fluss, im Strom der Veränderlichkeit der Welt ist für unsere Psyche zwingend. Anders können wir nicht wahrnehmen. Wir können Veränderungen nur wahrnehmen, wenn wir sie in bestimmte rhythmische Einheiten akzentuieren.

Der Musik liegt die Möglichkeit zugrunde, eine bestimmte Metrik in eine rhythmische Einheit einfacher und komplexerer Ordnung einzubinden. Ein Bewusstsein für die Zeit ist auch ein Bewusstsein für ihren Rhythmus. Wir können nicht wahrnehmen, ohne zu akzentuieren und wir können die Zeit nicht wahrnehmen, ohne uns ihres Rhythmus bewusst zu sein. Wir können uns vorstellen, wie etwas ohne räumliche Betonung auf der Bühne dargestellt wird. Was wäre eine Handlung auf der Bühne in zeitlicher Betonung? Sie wäre rhythmisch. Die Handlung wird so dargestellt, dass der Zuschauer durch den Regisseur veranlasst wird, die Veränderungen, die sich auf der Bühne vollziehen, in einem bestimmten System von Betonungen, einem System des Rhythmus und einem System der Einheit wahrzunehmen.

Ist es möglich, zeitliche und räumliche Betonungen zu verbinden? Es ist möglich. Warum ist es möglich? Der Schauspieler existiert in vier Dimensionen. Das ist natürlich. Die natürlichste Darstellung ist die zugleich räumliche und zeitliche. Das nennt sich Rhythmoplastik. Der Mensch ist demnach auf der Bühne immer plastisch, mit einer betonten Präsens im Raum, aber zugleich rhythmisch in der Zeit.

Diese Form war in den Jahren 1918-1919 populär. Viele Theaterstudios haben auf diese Weise gearbeitet, aber die erwähnte Verbindung ist immer so zu verstehen, dass dem Zuschauer klar wird, dass eine Handlung und die Menschen auf der Bühne in Raum und Zeit existieren; alle anderen Akzente sollten ausgeschaltet oder abgeschwächt werden. Der Akzent ist materiell, denn er verwischt, dass die Welt Raum und Zeit ist. Das Alltagstheater ist es deshalb, weil es durch seine Alltäglichkeit verwischt, dass die Welt Raum und Zeit ist. Welche Form entsteht, wenn wir zu dieser Konzeption das Moment der Motorik hinzufügen? Das ergibt dann den Reigentanz. Der Reigentanz ist die Verbindung aller drei Akzente. Der Körper existiert im Raum durch Gegenüberstellung. Wenn im Reigentanz eine Figur in die eine Richtung ausgeführt wird, dann wird sie unbedingt in die andere Richtung wiederholt. Der Mensch fliegt mit erhobenem oder gesenktem Arm über die Bühne. Da hier das motorische Moment hinzukommt, wenn eine Figur der anderen folgt, entsteht auf der Bühne eine bestimmte Bewegung; die Bewegung der Muskeln erreicht den Zuschauer deshalb, weil sie eine in Raum und Zeit zugespitzte Rhythmisierung ist. Für den Reigentanz ist der Rhythmus wichtig, nicht die Melodie. Wer von euch hatte Rhythmus als Wechselbeziehung zwischen zwei Längen definiert? Das ist an sich richtig. Aber wir betonen die Längen in unserer Formulierung nicht, obwohl wir sie berücksichtigen.

Wir stellen die Akzentuierung heraus. Denn im Prinzip ist eine Länge nichts anderes als ein von der Kraft abhängiger Akzent: So wie ein starker Schlag ein starkes Ausholen erfordert und deshalb länger ist, mehr Platz in der Zeit einnimmt als ein schwacher Schlag, dessen kleine Akzente eine geringere Bewegungsamplitude erfordern und deshalb kürzer sind. Wenn wir dort stärker schlagen, wo wir akzentuieren, brauchen wir dort auch mehr Zeit. Das eine bedingt das andere, aber die Länge ist etwas, das in unserem System in der Luft hängt. Sie ist dann Teil einer bestimmten Dimension, wenn der Akzent der Betonung dies im Gedankensystem als Gesetz formuliert. Ich sprach davon, dass wir es im Theater mit der zeitlichen Kategorie zu tun haben. Metrum, Rhythmus, Tempo. Den Rhythmus haben wir betrachtet. Was ist das Metrum? Das Metrum ist die Dimension der Zeit in absoluten Einheiten. Also in Einheiten, die sich nicht verändern.

[…]

 

November 1928.

(Vorlesungen zur Theaterpraxis)