Kontext

Oswald Burghardt = Jurij Klen – ein Leben voller Widersprüche?

„Ne Klen a dub zvalyvsja…“ – „Nicht ein Ahorn, sondern eine Eiche ist gefallen…“. Diese posthume Einschätzung des Literaturwissenschaftlers Ihor Katschurowskyj spricht dem Dichter und Kulturmittler Oswald Burghadt mit dem Pseudonym Jurij Klen große Bedeutung zu. Katschurowskyj ist es auch, der Klen zu einem der drei ukrainischen Nationaldichtern neben Taras Schewtschenko und Iwan Franko erklärt. Dennoch war Klen bis zur Jahrtausendwende nur Experten ein Begriff.

Paradoxerweise steigt Burghardt als Deutscher, der sich mit der Ukraine identifiziert in der ukrainischen Exilliteratur durch seinen ästhetischen und inhaltlichen Beitrag zu einem der wichtigsten ukrainischen Dichter auf. Während er als Deutscher in der Ukraine russische Gedichte verfasste, wurde er dort eher als Übersetzer und Randerscheinung wahrgenommen. Im deutschen Exil verfasst er später aufsehenerregende ukrainische Werke, die nur in der ukrainischen Exilgemeinde beachtet werden und dann in den Wirren der Nachkriegszeit in Vergessenheit geraten, auch weil das Werk unvollendet blieb und noch nicht veröffentlicht war. Trotz der großen Bedeutung seiner Dichtung, gelangte diese wegen der historischen Umstände zunächchst nicht in den literarischen ukrainischen Kanon.

Das klingt widersprüchlich, erklärt sich jedoch durch die historischen Umstände.

 

WIE ICH AUF BURGHARDT GESTOSSEN BIN

Ein zurückgekehrter Emigrant erzählte mir während meines Auslandsstudiums im Kiew der 90er Jahre erstmals von Burghardt. Die Verbindung von Deutschland und der Ukraine in seiner Person, die Dreisprachigkeit seines Werks, das Paradoxon, dass er zu seiner Zeit hochgeschätzt, anschließend aber lange Zeit nur Spezialisten ein Begriff war, weckte mein Interesse.

Hinzu kam ein Hauptseminar zu Sonetten, für die Burghardt exzellente Beispiele geschaffen hatte. Der Form des Sonetts wohnt ja ebenfalls ein Paradoxon inne, denn es macht einerseits als Prokrustesbett dem Dichter viele Vorgaben, ist aber gerade dadurch eine sehr klare Form. Das Sonett vereint Gegensätze wie strenge formale Regeln mit einer dialektischen inneren Struktur, eine Dualität verbindender und trennender Elemente. August Wilhelm Schlegel resümierte in seinem Sonett über das Sonett mit dem Titel„Das Sonett“: „Füll‘ in engen Grenzen.“

Für die sowjetischen Zeitgenossen war die Form des Sonetts eng mit bourgeoiser Ideologie und Konterrevolution verbunden. Als individualistische Gattung mit traditioneller Thematik, die sich nicht entsprechend sozialistischer Vorgaben politisch engagiert, wurde das traditionelle Sonett abgelehnt. Während die manche Zeitgenossen solche Dichtformen aufbrachen, hielten die Neoklassiker an den klassischen Regeln fest. Mehrere nachfolgende Generationen besannen sich zurück auf die dichterische Vielfalt der 20er Jahre, auch auf die Neoklassiker und Burghardt, sodass diese inzwischen fest zum ukrainischen kulturellen Gedächtnis und literarischen Kanon gehören.

Burghardts Sonette wurden zum Thema meiner Magisterarbeit, seiner gesamten Dichtung war meine Dissertation gewidmet.

 

BIOGRAFIE

Herkunft

1891 in eine deutschstämmige Familie geboren und aufgewachsen im russischen Zarenreich etwa 150km südwestlich von Kiew, wuchs Burghardt in einem multikulturellen Umfeld auf: In der Familie wurde deutsch gesprochen, Schul- und Amtssprache war russisch, die Landbevölkerung sprach ukrainisch, die Gutsherren polnisch. Mit einem Studium der Germanistik und Slawistik in Kiew vertiefte Burghardt diese Multikulturalität, musste sein Studium jedoch für vier Jahre unterbrechen, denn aufgrund seiner deutschen Abstammung wurde Burghardt während des ersten Weltkriegs ins nordrussische Gebiet Archangelsk verbannt. Anschließend erlebt er die kurze staatliche Unabhängigkeit der Ukraine und die darauffolgende kulturelle Blüte der 1920er Jahre, als die Sowjets eine Ukrainisierungspolitik betrieben und ein großer Pluralismus möglich war, eine Vielzahl an ukrainischen Zeitschriften und Verlagen gegründet wurde und unterschiedlichste künstlerische Stilrichtungen nebeneinander existierten.

Neoklassiker

Burghardt unterrichtete zunächst im Dorf Baryschiwka am sozial-ökonomischen Technikum Deutsch, später an verschiedenen Kiewer Hochschulen. In den Jahren 1918 bis 1920 fanden sich Burghardt, Mykola Zerow, Maksym Rylskyj, Mychajlo Draj-Chmara und Pawlo Fylypowytsch zusammen, die als Kiewer Neoklassiker bekannt wurden. Ein Programm oder ein Manifest verkündeten sie nicht. Sie gründeten keine literarische Gruppe. Was sie verban waren gemeinsame ästhetische Vorstellungen, nämlich ein Streben nach formaler Vollkommenheit, inhaltlicher Bedeutung und ein klassisches Bildungsideal. Viele kanonische Formen, Stoffe und Motive der Weltliteratur führten sie erstmals in die ukrainische Literatur ein und schufen normbildende Schöpfungen für die Nationalliteratur. Wie die Neoklassik an anderen Orten reagierten auch die Kiewer Neoklassiker auf den Zeitgeist, in ihrem Fall auf den revolutionären Realismus und auf die auf die romantisch-realistische Tradition im Geiste Taras Schewtschenkos, die sich auf das folkloristisch-nationale Thema fixiert hatte und weniger auf die Form. Inmitten der Vielfalt literarischer Strömungen in der Zeit der „ukrainischen Wiedergeburt“, wie die kulturelle Blüte auch genannt wurde, nahmen die Neoklassiker bald eine führende Stellung ein.

Literaturdiskussion

In der Literaturdiskussion der Jahre 1925-1928 standen die Neoklassiker proletarischen Literaturorganisationen wie Pluh, Hart oder Vaplite und deren Hauptakteur Mykola Chwyljovyj gegenüber. Die sozialistischen Gruppierungen warfen den Neoklassikern vor, sich mit ihrer apolitischen l’art pour l’art und ihrem Individualismus dem Aufbau der neuen sozialistischenGesellschaft zu verweigern. Ihre Werte verteidigten die Neoklassiker unter anderem mit Zerows Essaysammlung „Zu den Quellen“, einem Aufruf, durch eine gute literarische Ausbildung der Autoren, hohen künstlerischen Anspruch und Anknüpfen an europäische Quellen die ukrainischen Literatur auf Weltniveau zu heben. Nach zeitgenössischer Ansicht wurde die neoklassische Ästhetik zur politischen Aussage, denn gerade in der Zeit des sich etablierenden Sozialismus konnte die Form zu einer weltanschaulichen Aussage werden.

Schon 1921 wurde Burghardt verhaftet. In Baryschiwka war angeblich ein Aufstand geplant worden. Die ukrainischen Intellektuellen wurden als „Konterrevolutionäre“ ins Gefängnis gesteckt. Dass er nach einem Monat schon wieder frei kam, verdankte Burghradt der Intervention des Autors Wolodymyr Korolenko beim Volkskommissar für Bildung.

Doch erst Ende der 20er hatte sich das Sowejtregime stabilisiert. Bald wurde der sozialistische Realismus durchgesetzt und Repressionen gegen angebliche Konterrevolutionäre, Kulaken und Nationalisten nahmen zu. Draj-Chmara wurde seit 1933 mehrmals verhaftet und verstarb 1939 im Lager in Kolyma. Zerow und Fylypowytsch wurden 1935 verhaftet und auf die Solowezki-Inseln gebracht, 1937 dann in Karelien erschossen. Sie gehören somit zur „erschossenen Wiedergeburt“, jenen ukrainischen Künstlern und Autoren, die den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fielen. Rylskyj wurde schon 1931 verhaftet und wagte nach einem Jahr Haft keine Kritik mehr, sondern passte sich an und dichtete Loblieder auf Stalin. Seine Verhaftung war für Burghardt Anlass, endgültig nach Deutschland zu emigrieren. Er schrieb in seinen „Erinnerungen an die Neoklassiker“: „Als Rylsky 1931 vorübergehend in Haft kam, hatte ich das Gefühl, dass sich der Kreis verengte, dass eine neue Kampagne gegen die Intelligenz vorbereitet wurde und dass die Sturmwolke dieses Mal nicht an den Neoklassikern vorbeiziehen würde.“

Exil

Im Exil kam Burghradt zuerst bei Verwandten im Schwarzwald und München unter und war als Privatlehrer und für Zeitschriften tätig. Ab 1934 lehrte er am Slawischen Seminar in Münster. Dort promovierte er 1941 über „Die Leitmotive bei Leonid Andrejev“, die er auf Deutsch verfasste. Von 1939 bis 1942 wurde er von der Wehrmacht als Übersetzer eingesetzt, auch an der Ostfront. Durch eine Erkrankung entkam er offenbar in ein Krankenhaus und konnte sich nach der Behandlung vom Militrädienst befreien. Anschließend lehrte er als Lektor und bald als Honorarprofessor an der deutschen Universität in Prag, wo er auch für die Ukrainische Freie Universität tätig war und vor allem für den Zeitschrift „Wistnyk“ aus Lwiw schrieb. Hier wurde er zur Prager Gruppe und den Vistnykiv, den Verfasser*innen der Zeitschrift gezählt. Wieder handelte es sich nicht um programmatische Gruppierungen, sondern um Vertreter ähnlicher ästhetischer Vorstellungen, die sich lose zusammenfanden.

Bei Kriegsende floh Burghardt nach Tirol, von wo aus er für zahlreiche Zeitschriften tätig war und sogar eine eigene namens „Litavry“ herausgab. In Innsbruck erhielt er einen befristeten Lehrauftrag. In diese Periode fällt seine wichtigste kreative Schaffensphase. Außerdem schrieb er seine „Erinnerungen an die Neoklassiker“ nieder, die 1947 erschienen. Für Lesungen und Vorträge reiste er mehrfach durch Deutschland, wo er am 31. Oktober1947 einer Lungenentzündung erlag. Die meisten seiner Werke wurden erst posthum veröffentlicht: 1957 bis 1960 erschienen drei Bände seiner Werke in New York, 1992 der dazugehörige vierte Band. Eine Auswahl seiner Werke erschien 1991 in Kiew.

 

WERK

Der Übersetzer

Burghardts erstes Gedicht datiert von 1913. Während die anderen Neoklassiker in den 20er Jahren vorwiegend auf Ukrainisch dichteten, verfasste Burghardt zumeist russische Gedichte, die im Vergleich zu seinem späteren Werk in der Form weniger ausgefeilt und raffiniert ausfielen, häufig Quatrains. Außerdem kongruierten dabei Inhalt und Form in geringerem Maße, die Aussagen scheinen beliebiger. Dass Burghardt sein Handwerk verstand, zeigt sich insbesondere an jenen Gedichten, die er selbst übersetzt hat, also etwa eigene russische Sonette, die er später zu ukrainischen Sonettzyklen ausgearbeitet hat und die wahre Umdichtungen waren. Seine frühen Gedichte veröffentlichte Burghardt jedoch nicht, sondern trat zunächst innerhalb der Gruppe der Kiewer Neoklassiker als hervorragender Übersetzer in Erscheinung. Die ersten ukrainischen Gedichte dagegen veröffentlichte er in Zeitschriften: 1928 Skoworoda und 1933 Kortes.

 

Gedichtband: „Die Karavellen“

Erst im Exil und unter dem Pseudonym Jurij Klen verfasste der Dichter herausragende neoklassische Sonette, Terzinen oder Oktaven, deren strenge formale Vorgaben er meisterhaft erfüllte. Metren und Reimschemata befolgte er etwa regelgetreu, dazu wählte er klassische Sujets. Darin zeigt sich Burghardts Mission, das Erbe der Neoklassiker.

Konstituierende Elemente dieser Gedichte sind eine bedeutungstragende Lautstruktur, Nominalstil, reiche Farbsymbolik, iterative Strukturen, originelle und daher oft ferne und ungenaue Reime, Intertextualität, weltliterarische Topoi. Ton und Inhalt sind intellektuell, philosophisch, emotional, aber niemals pathetisch. Form und Inhalt kongruieren. Möglicherweise bedeutete die strenge Form und Regeltreue für Burghardt eine Ordnung, einen Halt, der ihm half die Destruktion und das Chaos seiner Zeit zu bewältigen. So war ihm das Sonett etwa ordnende Kraft und ästhetisches Vergnügen. Freiere und epischere Formen sowie formale Experimente, also bewusste Abweichungen von der strengen Form, erscheinen bei Klen immer dann, wenn auch seine Aussage destruktiv ist. Ein Beispiel dafür ist das Bisonett Lot, das sich auf die Bibelerzählung von Sodom und Gomorra bezieht: Gott sendet zwei Engel, um die Städte zu zerstören, deren Bewohner sich sündhaft verhalten haben. Außerdem sollen sie Lot warnen. Auf der Flucht vor dem zerstörerischen und gleichzeitig reinigenden Feuer sollen er und seine Frau nicht zurückschauen. Die Salzsäule, zu der Lots Frau erstarrt, als sie doch zurücksieht, ist im Gedicht als graphisch verdeutlichte Säule, also untereinander angeordnete Buchstaben, zu erkennen.

Diese ukrainischen Gedichte wurden 1943 im Band „Karavellen“ veröffentlicht.

 

Die Bandbreite der allein in den „Karavellen“ angeschnittenen Stoffe und intertextuellen Motive ist enorm. Doch egal, ob es um Liebe, Religion oder Weltliteratur geht, um Wikinger, Rom, provenzalische Dichter oder Johanna von Orléans, das Grundthema ist stets die Ukraine. Auch in exotistischen Gedichten über Konquistadoren oder biblische Motive soll der Rezpipient das Eigene entdecken.

Bsp: Der Übergang von einem Thema zum anderen kann in dem Gedicht „Jeanne d’Arc“ aus dem Jahr 1936 beobachtet werden, das mit der Verherrlichung der Heldentaten der französischen Heldin beginnt und mit einer Erwähnung der ukrainischen Heimat „sarmatische Weiten“ endet. Antike, mittelalterliche, Renaissance-Sujets sowie Themen dienen als Prisma für das historische Schicksal der Ukraine. Besonders sichtbar wird Burghardts tiefe Verbundenheit mit Ukraine in „Sofija“, „Wir“, „Ukraine“, „Verfluchte Jahre“ oder „Die Asche der Imperien“.

 

Trotz der Zerstörung der Zivilisation auch in seiner eigenen Zeit, zeichnet Klen am Ende keine Apokalypse, sondern zeigt sich idealistisch und davon überzeugt, dass die Ukraine, insbesondere auf geistig-spritueller Ebene überleben wird.

 

Einige Beispiele aus den „Karavellen“ möchte ich hier anführen:

„Skoworoda“, das erste ukrainische Sonett von Burghardt, handelt vom gleichnamigen ukrainischen Wanderphilosophen und Dichter. Für ihn war das Wandern ein Weg, um die Welt und eigene Seele zu erkennen. Entsprechend ist Burghardts Gedicht nachdenklich, kontemplativ, philosophisch und vereint die beste spirituelle Tradition der Ukraine mit philosophischem Idealismus.

Das erste unter dem Pseudonym Jurij Klen veröffentlichte Bisonett „Kortes“ nimmt Bezug auf den spanischen Konquistadoren Hernán Cortés aus dem 16. Jahrhundert. Seine Art das Aztekenreich zu erobern, verurteilt Burghardt. Er zieht zudem eine Parallele zwischen Azteken und Ukrainern sowie Spaniern und Sowjets, kritisiert also die Kolonialpolitik im Allgemeinen und die der Sowjetunion im Speziellen.

Die „Sofija“ (1935) besitzt als ukrainisches Heiligtum spirituelle Bedeutung. Die Kathedrale aus dem 11. Jahrhundert besteht nicht nur aus Stein, sondern verkörpert bei Burghardt angesichts einer tragischen Realität die Zuversicht einer besseren Zukunft. Die Sowjets hatten auch in der Ukraine viele Kirchen zerstört, der Abriss der Sofija war bereits gepant, wie der dem Gedicht vorangestellte Epigraph aus einer Zeitung verdeutlicht. Für Burghardt ist das Gebäude ein Symbol für Schönheit und die Unzerstörbarkeit des ukrainischen Geists. Er beendet das Gedicht mit den folgenden Zeilen:

„Ein Tag beginnt… die Welt blitzt auf und es fällt dir

wie Schuppen von den geblendeten Augen.

Im heiligen Schrecken sonderbar versteinert,

– als ob jemand in die Ewigkeit ein Fenster geöffnet hat –

siehst du im unterträglich weißen Nebel

alles, alles, wie es w i r k l i c h ist:

mit dem Kreuz den Vorhang aus Rauch durchschneidend,

in Schönheit, welche nichts bereut,

wächst die Heilige Sophia, klar und unerschüttert,

als Legende ins Himmelblau.“

Im sehr umfangreichen Gedicht „Ukraine“ schildert der Dichter die Schlüsselepochen der Nation, angefangen mit dem Joch der Tataren bis hin zur sowjetischen Gegenwart. Darin manifestieren sich Burghardts Nostalgie für das verlorene Land, seine Empathie für das Leid der Ukrainer und ihr Streben nach nationaler Selbständigkeit. Auch hier kommt der philosophische Gedanke des Überdauerns zum Tragen: „Wir sind diejenigen, die das Leid der Jahre, / den Schmerz des Spotts und die Nacht der bitteren Schande durchstehen werden.“

Ähnlich drückt sich in den Terzinen mit dem Titel „Terziny“ ein Glaube an die glückliche Zukunft der Ukraine, ihre Befreiung vom Joch des Feindes. Die lange Reise voller Leiden und Wanderungen endet mit dem Sieg über den „Drachen“, den Feind des Mutterlandes: Der Glaube an den Sieg wird durch das Bildnis des Heiligen Georg verkörpert, der der Legende nach den Drachen besiegte und den Sieg des christlichen Glaubens symbolisierte. Georg erweckt die Nation aus ihrer Lethargie. In seinem spirituellen Appell an die Zeitgenossen verschmilzt Burghardt das christliche Motiv mit Reminiszenzen an Dantes Terzinen. Eine Parallele entsteht auch zwischen Dantes Hölle und Stalins Ukraine.

Als Brückenschlag zur neuen Heimat und um gehört zu werden, verfasste Burghardt zudem einige deutsche Gedichte. Doch erschien ihm die deutsche Literatur bereits sehr reich, so dass er sich bald wieder der ukrainischen Literatur zuwandte, um diese zu bereichern und zudem von den Erfahrungen und Grausamkeiten des Stalinismus zu berichten. Die Tatsache, dass er nun als Einziger der Neoklassiker frei von sowjetischen Repressionen schreiben konnte, erklärt, weshalb er vor allem in „Verfluchte Jahre“ und „Asche der Imperien“ politisch-kritische Themen und einen satirisch-ironischen Ton aufgreift, insbesondere in den Parodien, die er mit Leonid Mossends zusammen unter Pseudonym Porfyrij Horotak verfasste.

 

Die verfluchten Jahre

1937 und 1943 erschien das Poem „Die verfluchten Jahre“. Verfasst in Oktaven erzählt Burghardt als Dichter und Chronist in ernstem, manchmal auch satirisch-ironischem Ton von der nachrevolutionären Ukraine, vom Erstarken der Sowjets und dem Aufbau des Sozialismus in den 20er und 30er Jahren, welcher die Kollektivierung und den Terror gegen „Konterrevolutionäre“, „Nationalisten“, Intellektuelle, „Kulaken“, mit nächtlichen Verhaftungen, Willkür, dem GULAG, der Russifizierung beinhaltete. Als einer der ersten spricht Burghardt hier vom Holodomor, der „Tötung durch Hunger“, einer gewollten Hungersnot, den die Ukraine heute als Völkermord betrachtet.

In den „verfluchten Jahren“ erwähnt Burghardt unter anderem Inschriften, wie er sie selbst 1921 in seiner Gefängniszelle vorgefunden hatte: „Ich warte darauf, erschossen zu werden. Petro Palij .“ – / „Heute werde ich für dich sterben, mein Volk. / Iwan Masnjuk.“ – „Ende. Es gibt keine Hoffnung. / Ich verfluche die Henker. Wasyl Makoda.“ – / „Lebt und verzichtet nicht auf stolze Träume, / O du, dem die Sonne noch schön scheint. / Mychajlo Wjun.“ – „Marusja, meine Liebe. / Ich werde sterben. Manjura Walentyn.“ Diese Abschiedsworte sind nur Fragmente und zeigen doch die Vielfalt der Schicksale und Leiden. Auch die Emigration kommt vor: „Glücklich wer stolz die Heimat verlassen konnte“.

Die kurze Blüte der nationalen Kultur beschreibt Burghardt idyllisch, auch der Literaturbetrieb der 20er und die Neoklassiker kommen vor. Der Sowjetmensch dagegen gleicht in seiner Beschreibung einer seelenlosen Maschine, die ihre Individualität und Standhaftigkeit verloren hat. Opportunismus, namentlich von Rylskyj, wird von Burghardt angeprangert. Das Poem schließt mit einem Bittgebet für die Opfer.

 

Die Asche der Imperien

Über Burghardt kann man nicht schreiben, ohne „Die Asche der Imperien“ zu erwähnen. Sein Hauptwerk konnte er aufgrund seines unerwarteten Todes nicht vollendet. So blieb die Epopöe sehr heterogen und fragmentarisch. Doch gibt es einen roten Faden, der die fünf Teile verbindet: anhand des Beispiels verschiedener Imperien verurteilt Burghardt jede Art von Totalitarismus und Fanatismus. Ein Manifest des Humanismus.

Als Folien dienen Dantes „Göttliche Komödie“, Kotljarewskyjs „Enejida“ und Goethes „Faust“. Entsprechend wirken Dante, Aeneas und Faust als Führer durch verschiedene Höllen und beim Kampf zwischen Gut und Böse mit. Abweichend vom Werk der anderen Neoklassikern schlägt Klen einen satirischen Ton an, spielt mit Groteske und Phantastik und wagt sich an ein ambitioniertes episches Ausmaß.

Der erste Teil der Epopöe umfasst die Entstehung und den Untergang mehrerer Imperien: von Rom bis Versailles, vom russischen Zarenreich über den ersten Weltkrieg und die Oktoberrevolution bis zur Sowjetunion. Letztere wird als rote Flut verbildlicht. Autobiographisch sind Kindheit und Jugend, die Verbannung nach Archangelsk, aber auch die literarische Tätigkeit der Neoklassiker eingearbeitet. Dieser erste Teil wirkt besonders mosaikhaft.

Der danteske zweite Teil handelt vom stalinistischen Terror, der seelen- und gottlosen sowjetischen Gesellschaft, dem totalitären Staat als moderner Hölle und ist in Terzinen vorwiegend im fünffüßige Jambus abgefasst. „In der sowjetischen Hölle leiden die Gerechten, die Unschuldigen“. Gleichzeitig führt Klen Baryschiwka (Lukrose) als Gegenbild an und die Ukraine als Phönix. Am Ende steht das Bild des Dichters – Dante/Florenz, Burghradt/Ukraine –, der verbannt wird bzw. ins Exil geht: „Und wie der verbannte Dante verließ ich,/ in dieser Nacht mein Florenz – meine Ukraine/ und begrüßte die unbekannten Weiten.“

Die faschistische Hölle ist Gegenstand des dritten Teils. Hier sollen die Ukrainer nicht wie durch die Sowjets als Klasse, sondern als Rasse vernichtet werden. Betont wird der technische Aspekt des Tötens, der Tod wird zum Massenphänomen. Wie die Vorlage der Enejida von Iwan Kotljarewskyj besitzt dieser Teil fünffüßige Jamben in zehnzeiligen Strophen und einen burlesken Ton.

Goethes Faust bildet die Folie für Teil vier, der besonders philosophisch und heterogen ausfällt. Er wirkt wie ein Zwischenspiel, wobei die Walpurgisnacht und die Klagen Jeremiahs als autonome Komponenten fungieren. Dramatisch und phantastisch wird der Kampf zwischen Gott und dem Teufel um die Seele des Menschen geschildert. Der Verkauf der Seele an den Teufel ist nicht wie bei Goethe die Seele eines Individuums, sondern die einer ganzen Generation. Der Kampf um Gut und Böse wird bei Burghardt daher universell, gilt für alle totalitären Systeme. Burghardt selbst schrieb, dass es ihm hier um die Suche nach Wegen aus dem Chaos ging.

Der letzte kurze Teil besteht aus einem Dialog zwischen Mensch und Erde.

So zeigt Klen einen Kreislauf von Zerstörung – Wiederaufbau – Neuanfang von Staaten. Der Not und der Zerstörung stellt er Alltag und Kunst als Antithese. Auch in diesem Werk zeigt sich sein Idealismus: „Hast du keine Vorfahren? Dann werde dein eigener Vorfahr. / Die Leute haben die Legenden vergessen? Erschaffe neue. / Sie haben den Glauben verloren? Schreibe ihnen ein neues Kredo auf die Tafeln. / Die Helden sind verschwunden? Nimm das Schwert eben in die eigenen Hände./ Die Städte sind verbrannt? Bau neue Mauern.“

„Die Asche der Imperien“ gilt Kritikern als wichtiges Werk des ukrainischen Literaturkanons, manche betrachten es gar als Nationalepos und setzen Burghardt als Nationaldichter mit Homer und Dante auf eine Stufe. Burghardt selbst vermisste in der ukrainischen Literatur ein solches Nationalepos, wie es in Antike oder Mittelalter in anderen Literaturen entstanden war, etwa Homers „Odyssee“, das deutsche „Nibelungenlied“, das russische „Igorlied“ oder die finnische „Kalevala“. So schrieb er „Über die Genese des Poems ‚Die Asche der Imperien‘“ 1946 (in Tvory Bd. 2, S. 331): „Die Idee, der ukrainischen Literatur ein Epos zu geben, das ihr fehlt, ist zu kühn und gewagt. Es hat sich nicht sofort in mir entwickelt. (…) Der erste Teil des Gedichts bestand aus einer Vielzahl von Passagen von unterschiedlicher Länge. Er umfasst die Zeit des Ersten Weltkriegs und der Revolution. Ich begründe dies philosophisch: Wir sehen nur Teile eines riesigen Teppichs vor unseren Augen vorbeiziehen, und können uns daher das ganze Muster nicht vorstellen; wir halten nur Körner in unseren Händen und sehen nicht die Haine, die daraus wachsen werden, daher sind wir nicht in der Lage, die Bedeutung der schrecklichen Katastrophe zu verstehen, die wir durchleben. Zuerst stellte ich mir eine bescheidene Aufgabe: ein Gedicht von ein paar hundert Zeilen. Aber es wuchs gegen meinen Willen und eroberte weitere Horizonte, und ich musste aufpassen, weil sein Umfang nicht mehr Hunderte, sondern Tausende von Zeilen beträgt. Wird es den Anforderungen eines Epos‘ gerecht? Dies zu beurteilen steht dem Autor nicht zu.“

 

NOVELLEN

Ganz anders als die getragene tiefgründige Dichtung Burghardts sind seine Prosawerke teils auch komisch. In langen, komplizierten Sätzen beschreibt er lustige Situationen und verwendet teils Umgangssprache. Seine Kurzgeschichten sind wie die poetischen Werke voller Dramatik und voller Sehnsucht: nach Natur und Harmonie („Akazija“), nach wahrer Liebe und Ritterlichkeit („Die Äpfel“), nach Freiheit („Medaillon“), nach Moral („Die Abenteuer des Erzengels Raphael“).

Laut V. Sarapyns Artikel über die wenig bekannten Seiten von Jurij Klen in der Zeitschrift Ukrajinska mowa ta literatura von 2000 ist das Ideal des Schriftstellers „ein Kämpfer, eine Person, die über das Chaos gesellschaftspolitischer Ereignisse hinauswächst, ihre eigene Seele formt und trotz schicksalhafter Hindernisse die tiefe Essenz der Dinge begreift. Empathie und tragischer Optimismus – das sind die wichtigsten Motive des Schriftstellers und seiner Kurzprosa“. Geprägt von impressionistischen Einflüssen eines M. Kozjubynsky oder G. Kosynka sind die Geschichten sehr emotional bzw. fangen subtile Gefühlsnuancen der Helden ein, die Beschreibungen sind lakonisch, aber auch ausdrucksstark und künstlerisch ausgefeilt.

Die Äpfel

Ein junger Kosake der Zaporoger Sitsch ist auf dem Heimweg und wird vom Duft aus dem Apfelgarten eines Oberst in Bila Zerkwa verführt. Er betritt das Grundstück und wird als vermeintlicher Verehrer der Tochter vor die Wahl gestellt, diese zu heiraten oder getötet zu werden. Anders als viele Geschichten, in denen es um den Zwang zu einer Heirat geht, ist diese nicht traurig und ausweglos, sondern lustig und romantisch. Bis zum Happy End werden Erinnerungen des Kosaken an seine Jugend und an seine Zeit als Kosake, die Schönheit des Gartens und der Musik, die Emotionen des Mädchens und des jungen Mannes plastisch und atmosphärisch eingefangen.

Jetzt ritt Antin an einem langen Zaun entlang, der das große Anwesen umgab: ein dichter, schattiger Garten mit Obstbäumen, und irgendwo in seinen Tiefen ein Haus mit weißen Säulen. (…) Dort, im verlockenden Dickicht, musste ein großer, saftiger Antonowka-Apfel hängen, und ein zartweißer papierener, rauer Renett-Apfel. Ihre Düfte mit kaum wahrnehmbaren Nuancen und Übergänge flossen ineinander, so dass man ein wahrer Kenner von Aromen sein musste, um (gleich einem Musikkenner) die feinsten Modulatione und Töne zu erkennen, die im abendlichen Garten in der Ukraine eine Symyphonie schufen.

Gleichzeitig handelt es sich um eine humorvolle Verwechslungsgeschichte. Komik ruft auch die Verwendung von hochsprachlichem Vokabular („Toleranz“, „Kopulation“, „Kapitulation“ usw.) in völlig unpassendem Kontext durch die Kosaken, die dem Oberst dienen, hervor.

Die willensstarke, selbständige Tochter des Obersten und der ritterliche, ehrenhafte Kosak Antin stimmen einer Zwangsheirat nicht zu. Dennoch findet Burghardt eine glückliche Lösung für die bizarre Situation. Die beiden entdecken wahre Gefühle füreinander.

In der Kurzgeschichte verschmilzt die innere Welt der Figuren mit der Außenwelt in Bildern wie dem Vollmond, der sein Licht auf die Kirce ergießt, die einer Braut im Damastkleid ähnelt.

Damit kreiert Burghardt eine wunderbare Harmonie von Mensch und Umwelt. Skowordas Vorstellung vom Primat des Spirituellen über das Materielle wird in den Figuren der „Äpfel“ lebendig. Die dynamische Handlung bietet unerwartete Wendungen und ein überraschendes Ende.

Ein wenig wie ein gutes, naives Märchen bekräftigt die Kurzgeschichte „Äpfel“ metaphorisch den Willen, das reine, unermesslich starke Verlangen es Autors, die Welt harmonisch, schön zu sehen, wie diese „Symphonie des Abendgartens“ des Oberst.

 

Warum Burghardt übersetzen?

Schon an den Lebensdaten und -orten Burghardts wird sichtbar, welche historischen Umwälzungen er miterlebt hat, von der Geburt im multikulturellen Podolien im russischen Zarenreich bis zum Tod im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit: Durch die Erfahrungen als Deutscher in der Ukraine vielsprachig aufzuwachsen, dann aber auch verbannt zu werden, die unabhängige Ukraine und ihre kulturelle Blütezeit mitzuerleben genauso wie Stalinismus und Nationalsozialismus und zwei Weltkriege, eine Revolution und einen Bürgerkrieg mitzuerleben und schließlich auch die Erfahrung der Emigration zu machen wurde Burghardts Verwurzelung in mehreren Kulturen und Sprachwelten potenziert.

Besonders macht Burghardt auch seine künstlerische und berufliche Entwicklung: Vom Neoklassiker, der durch meisterhafte Übersetzungen europäische Quellen, Formen und Stoffe in die ukrainische Literatur einführt wandelt er sich zum Bewahrer und Vermittler des neoklassischen Erbes in der Diaspora. „Wir waren Zeugen jener Blüte. Werden wir als Bewahrer würdig sein, die uns anvertrauten Schätze zu erhalten und zu pflegen?“, fragt Burghardt in einem Artikel im „Vistnyk“ von 1936. Vom Übersetzer und Verfasser unveröffentlichter russischer Gedichte reift er gleichzeitig zum Meister ukrainischer neoklassischer Poesie, die jedoch zumeist posthum veröffentlicht wurde, der sich mit der Ukraine identifiziert. Obwohl Burghardt intellektuell, kulturell, sprachlich, beruflich in Deutschland direkt anknüpfen konnte, wechselte er nicht Sprache und Mission von der des Heimat- zum Gastland, sondern wandte sich bewusst der lange unterdrückten Sprache und Literatur des Landes zu, in dem er aufgewachsen war.

Zusammen mit dem Gebrauch der russischen, deutschen und ukrainischen Sprache wandeln sich Burgharts Sujets von subjektiv-persönlicher Lyrik, Naturmotiven und symbolistischen Tendenzen zu historiosophischen, klassisch-weltliterarischen Topoi in den „Karavellen“ und schließlich zu politisch-historischen Themen. Der Ton verändert sich parallel dazu von romantisch-intim zu neoklassisch und schließlich zu satirisch-dokumentarisch. Bei den Gattungen lösen romanische Formen und Zyklen die Quatrains ab und münden in langen, epischen Formen. Die rhetorischen Mittel werden immer präziser und raffinierter. Der politische Inhalt, der satirische Ton, die epischen Ausmaße sowie religiöse Themen unterscheiden Burghardt von den neoklassischen Kollegen.

Für den Übersetzer liegt die Herausforderung darin, die emotional aufgeladene Atmosphäre und plastische Beschreibung der Prosa sowie die Meisterhaftigkeit und Präzision der Gedichte zu übertragen.

Im parodistischen „Archysonet Juriju Klenovi“ sind die konstituierenden Elemente seiner besten Werke zusammengefasst: Exotismus, Minne, danteske Liebestopoi und Allusionen an Homer sind mit dem graphischen Element aus dem Bisonett Lot, ironischem Stil und der Nennung der „Asche der Imperien“ kombiniert:

Archisonett für Jurij Klen

Auf den Weg der gerühmten Konquistadores,

aus denen Banditen gemacht hatte Cortès/z,

begabst du, dich auf der Suche nach einer Princess,

ins Land der Affen, Lamas und Tomates.

 

 

Dein Trieb trug dich über die Fläche des Meeres.

Der Sturm heulte wie ein Hund um den Mast.

Warum segeltest du nicht vorbei an Benares?

Warum wühltest du nicht hinter der neuen Sitsch?

 

 

Aber – ob du sie rufst oder nicht – in die Kosakensitsch

wird längst nicht mehr hereingelassen Beatrice.

Am Rande der Peripherie begegnen sie einer

S

ä

u

l

e.

 

 

Wie du dich bemüht hast, nun nimm den eisernen Helm ab,

gib den Kängurus ihre Milch,

und erhol dich auf der Asche der Imperien.