Majdan! Ukraine, Europa.

Am 12. März 2014 erscheint in der edition.fotoTAPETA ein Sammelband mit Texten den Euromajdan, herausgegeben von Claudia Dathe und Andreas Rostek
Übersetzt durch translit e.V. u. a.

Die Ukraine ist das einzige Land Europas, in der die Annäherung an die EU mit Blut bezahlt wird, sagen Beobachter der Proteste auf dem Majdan in Kiew. Der Schriftsteller Juri Andruchowytsch meint lapidar: „Wenn wir uns für Europa einsetzen, geht es dabei auch um unsere Souveränität. Um die Menschenrechte und um die Freiheit. Das sind nicht nur schöne Worte, das ist die nackte Wahrheit…“  Sätze, wie wir sie von den Dissidenten in Warschau, in Budapest, in Prag kennen – Sätze aus den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Heute wird in der Ukraine ein Kampf ausgetragen zwischen der Gesellschaft und Machthabern, die das Land als ihren privaten Besitz betrachten – es geht gegen ein Regime, das Rechtsstaat und Institutionen allein für den eigenen Machterhalt instrumentalisiert, den Menschen ihre Würde nimmt und sich skrupellos bereichert.

Das ist ein Buch von Augenzeugen. Schriftstellerinnen, Dichter, Intellektuelle aus der Ukraine kommen zu Wort. Das  Buch betreibt Geschichtsschreibung des Augenblicks: persönliche Erlebnisse, die Lebensverhältnisse im Land, der Blick auf die Geschichte. Aber auch: Wie konnte die Gewalt eskalieren? Wie geht es weiter, wenn die Proteste vorüber sind?

Ein Land versucht sich zu befreien – für Europa ein historischer Moment. Es geht in diesem Buch immer auch um Europa: Wie verändert sich Europa mit und ohne die Ukraine? Was tut Russland? Dazu geben auch Autoren aus anderen europäischen Ländern Antworten. Mit Beiträgen u.a. von Juri Andruchowytsch, Elmar Brok, Laryssa Denysenko, Orlando Figes, Jörg Forbrig, Rebecca Harms, Jaroslav Hrytsak, Tamara Hundorowa, Halyna Kruk, Maxym Kidruk, Adam Michnik, Timothy Snyder, Martin Pollack, Taras Prochasko, Konrad Schuller, Natalka Sniadanko, Andrzej Stasiuk und Serhij Zhadan.

Der Band erscheint am 12. März in der edition.fototapeta und wird auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt.

ISBN 978-3-940524-28-7
Ca. 144 Seiten | Paperback | 22 x 13 cm

Offener Brief von Wolf Biermann

Der Liedermacher Wolf Biermann hat einen offenen Brief an Vitali Klitschko verfasst, in welchem er den Oppositionsführer seiner Unterstützung und Bewunderung Ausdruck verleiht. Den Brief haben unter anderem auch Marianne Birthler, Thomas Brussig, Daniel Cohn-Bendit, Ralf Fücks, Elfriede Jelinek und Olaf Kühl unterschrieben.

Den Brief finden Sie unter anderem auf der Website der FAZ.

Ostap Slyvynskyj: Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine

Folgenden Bericht des Dichters Ostap Slyvynskyj über die Menschenrechtsverletzungenin der Ukraine möchten wir Ihnen an dieser Stelle präsentieren.

26.01.2014

 

In der Ukraine kommt es, so müssen wir nach den Ereignissen der letzten Woche konstatieren, nicht nur systematisch zu Menschenrechtsverletzungen, u.a. gegen die Meinungsfreiheit, die Freiheit und Unantastbarkeit der Persönlichkeit oder das Recht auf Leben etwa, sondern auch zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie sie in den Römischen Verträgen festgehalten sind, besonders erschütternd sind die Verbrechen, die die Würde des Menschen verletzen, die Menschen in zynischer Weise erniedrigen und den humanistischen Grundwerte des Zusammenlebens jenseits von Zeit, Ort und politischem Kontext hohnsprechen. Derartige Vergehen sind nicht zu rechtfertigen. Es gibt keine Handlung, auf die solche Verbrechen eine angemessene Reaktion darstellen.

 

Zu nennen sind hier Folter, die Misshandlung von Gefangenen, die Verletzungen der Regeln und Gewohnheiten des Krieges. Das Kriegsvokabular ist hier durchaus angebracht, denn die Zusammenstöße von Spezialeinheiten des Innenministeriums und der organisierten Protestbewegung auf der Straße weisen, insbesondere im gegenwärtigen Rechtsvakuum, durchaus Züge kriegerischer Auseinandersetzungen auf.

 

Die unklare Rechtslage im derzeitigen Konflikt verführt die Seite, die sich für den rechtmäßigen Vertreter des Gesetzes hält, zur Verletzung elementarer ethischer Normen in den offenen Auseinandersetzungen, so etwa die Achtung vor einem Abgesandten oder die Unantastbarkeit der Ärzte. So wurde zum Beispiel vor meinen Augen ein Vertreter der Protestierenden, der mit einer weißen Fahne zu den bewaffneten Kräften ging, um eine Nachricht zu überbringen, ohne Vorankündigung verprügelt und verhaftet.

 

Angriffe auf Ärzte und Krankenschwestern, die die Protestierenden medizinisch versorgen, sind in den letzten Tagen zu einer traurigen Dauererscheinung auf dem Majdan geworden. Einen Höhepunkt erreichte die Aggression am 22. Januar, als die Sanitätsstelle durch Blendgranaten und Schlageinwirkung vollständig zerstört wurde. Viele Ärzte wurden verletzt, und was mit den Verletzten passiert ist, die zu der Zeit an der Sanistelle behandelt wurden, ist unklar. Die Ärzte, die den Protestierenden medizinische Hilfe leisten, werden in der ganzen Stadt, fernab der Zusammenstöße aufgespürt und verhaftet, genauer gesagt verschleppt, denn es gibt kein Gesetz, das ihre offizielle Festnahme rechtfertigen würde. So wurde zum Beispiel am 23. Januar die 22-jährige ehrenamtliche Arzthelferin Olexandra Chajlak von Kämpfern einer Berkut-Spezialeinheit auf dem Kiewer Bahnhof festgenommen und in den Wald verschleppt. Dort nahm man ihr alle Medikamente ab, einschließlich eines Asthma-Präparats, das für sie selbst lebensnotwendig ist.

 

Die Verschleppungen durch die Polizei, die mitunter von gedungenen Zivilisten vorgenommen werden, sind häufig begleitet von Misshandlungen und Folter, bisweilen kommt es auch zu öffentlichen Folterungen. In mindestens einem Fall endete die Verschleppung tödlich. Die tatsächliche Opferzahl liegt möglicherweise höher, denn etwa 10 Personen werden derzeit vermisst.

 

Am 21. Januar wurden die zwei verletzten Majdan-Aktivisten, Igor Luzenko und Jurij Werbyzkyj von „Unbekannten in Zivil“ aus dem Krankenhaus verschleppt. Luzenko, den Häschern entkommen, kommentiert: „Zu Anfang wurden wir gemeinsam verhört und misshandelt, dann wurden wir getrennt, in unterschiedliche Waldstücke gebracht und noch einmal malträtiert. Ich habe nur gehört, dass man Jurij stark unter Druck gesetzt hat … Das ging ungefähr 40 Minuten, vielleicht eine Stunde. Dann wurden wir wieder in den Bus gesetzt und mit Säcken über dem Kopf weggebracht.“ Am 22. Januar wurde die Leiche von Jurij Werbyzkyj mit Anzeichen schwerer Folterungen in der Nähe des Dorfes Hnidyn bei Kiew gefunden.

 

Am 22. Januar wurden in Kiew auf der Straße sechs Studenten der Kiewer Theaterhochschule von einer Berkut-Spezialeinheit festgenommen, die auf dem Rückweg vom Majdan waren. Später wurde – wie im oben beschriebenen Fall – eine Person freigelassen. Der 17-jährige Student Mychajlo Nyskohus wurde nach eigenen Angaben gefoltert und gequält: Er musste sich nackt ausziehen, die Nationalhymne singen und in der Polizeieinheit Spießruten laufen, man hat ihn geschlagen und am Hintern mit dem Messer verletzt.

 

Ein Mitglied des so genannten Automajdan, der Protestbewegung der Autofahrer, Olexandr Krawzow, wurde am 23. Januar von der Polizei festgenommen, er berichtet von Misshandlungen und Repressalien gegen die Opfer im eisigen Frost: „Wir wurden überfallen, die Autos wurden demoliert, wir wurden in den Marien-Park gebracht … Dort mussten wir uns nackt ausziehen und anderthalb Stunden auf Knien im Schnee ausharren … wir waren ungefähr 17 Personen.“

 

Besonders herabwürdigend wirken die öffentlichen Folterungen, denen der Majdan- Aktivist Mychajlo Hawryljuk ausgesetzt war, den die Polizei am 23. Januar festgenommen hatte. Mehrere Dutzend Polizisten beteiligten sich an den Misshandlungen, sie zeichneten alles auf Video auf, was im Folgenden zu einem Aufschrei in den Medien führte. „Ich lag am Boden und wurde misshandelt“, erzählt Machajlo Hawryljuk. „Alles, was Beine hatte, kam angelaufen und machte mit, sie sprangen mir auf den Kopf und machten Fotos. Als sie mich ausgezogen hatten, spielten sie mit meinem Kopf Fußball. Sie spielten die Helden und machten gegenseitig Fotos, setzten mir den Fuß auf den Kopf, als ich am Boden lag.“

 

Der Einsatz unerlaubter Mittel gegen die Demonstranten von Seiten der Polizei ist nicht nur eine Verletzung der Dienstvorschriften, sondern auch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nachweislich haben die Polizeikräfte Messingkugeln mit einem Durchmesser von 18,5 mm gegen die Demonstranten abgefeuert. Diese sind eigentlich zur Beseitigung mechanischer Hindernisse oder zum Anhalten von Verkehrsmitteln bestimmt, zum Öffnen von Türen zum Beispiel. Das zeigt, dass die Polizeikräfte sich keine Gedanken über die Demonstranten und ihren Widerstand machen: für sie sind die Protestierenden Objekte, die es zu entfernen oder zu vernichten gilt, es fehlt hier an dem Mindestmaß an Ethik. Eine der erwähnten Messingkugeln hat am 22. Januar Mychajlo Schiznewskij aus Belarus getötet, die Kugel durchschlug ihm das Herz. Außerdem wurde beobachtet, wie die Polizeikräfte der Sonderkommandos Blendgranaten mit Steinsplittern umwickeln, wodurch die Geschosse zu kleinen Splitterbomben werden und mechanische Verletzungen herbeiführen. Unmenschlich und unvereinbar mit den Menschenrechten ist ebenso die Erlaubnis des Ministerrates, bei Minustemperaturen Wasserwerfer einzusetzen, was schwere Erfrierungen und den Tod durch Unterkühlung nach sich ziehen kann.

 

Die Verletzungen, die viele Demonstranten erlitten haben, deuten auf gezielte Kopf- (insbesondere Augen) und Achselschüsse durch die Polizei. Viele Verletzungen wurden den Demonstranten von Scharfschützen zugefügt. Es ist bezeichnend, dass unter den Journalisten und Medienvertretern die Opferzahl besonders hoch ist. Die gezielte Gewalt gegen Journalisten ist eine Besonderheit der Auseinandersetzungen in der Ukraine. Die panische Angst der ukrainischen Machthaber vor der Öffentlichkeit lässt sie auf Journalisten schießen, und so ist die Aufschrift „Presse“ am Jackett oder auf dem Helm (genauso wie Rotes Kreuz) kein Schutz, sondern eine zusätzliche Gefahrenquelle. Allein zwischen dem 19. und 23. Januar sind nach vorsichtigen Schätzungen 40 bis 50 Journalisten verletzt worden. Zu den am schwersten Verwundeten gehören Stanislaw Grigorjew, Kameramann des russischen Fernsehsenders REN-TV, er wurde von einer Blendgranate getroffen, Wlad Bowtruk vom ukrainischen Fernsehsender Hromadske.tv, ihn trafen Gummikugeln am Bein und am Rumpf, und Wolodymyr Zintschenko vom ukrainischen Fernsehsender ICTV, ihn verletzte eine Gummikugel am Auge.

 

Zusammenfassend lässt sich folgendes sagen: Egal, wie die Auseinandersetzungen in der Ukraine enden, egal, welche politische Realität auf das Land zukommt, die Schuldigen für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssen bestraft werden. Das ist die Pflicht und Verantwortung von uns Ukrainern und der gesamten Weltgemeinschaft.

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

 

 

Die Ukrainische Revolution im Stellungskrieg

Der Autor Serhij Zhadan hat unter dem Titel „Die ukrainische Revolution im Stellungskrieg“ einen Text verfasst, in dem er über die Konfrontation der proeuropäischen und Pro-Janukowytsch-Kräfte im Vorfeld der Eskalation der Gewalt am 19. Januar in Charkiw berichtet.

Den Artikel finden Sie unter diesem Link auf unserer Seite.

Offener Brief von Juri Andruchowytsch „an alle Europäer“

Der Dichter und Schriftsteller Juri Andruchowytsch hat einen offenen Brief verfasst ,den wir Ihnen hiermit weiterleiten wollen:

Liebe Freunde,
und vor allem liebe Journalisten und Presseredakteure im Ausland

 

In diesen Tagen erhalte ich von euch sehr viele Fragen und Bitten, die aktuelle Situation in Kyiw und in der Ukraine im allgemeinen darzustellen und nach Möglichkeit eigene Zukunftsvision mindestens für die nächste Zeit zu formulieren. Da ich einfach nicht im Stande bin, an jede von euren Zeitschriften einen ausführlichen analytischen Beitrag zu verfassen, habe ich beschlossen, mich kurz an euch zu wenden, damit jeder von euch die Informationen hier je nach dem Bedarf verwenden kann.

Die wichtigsten Informationen, die ich hier mitzuteilen habe, sind folgende.

In nicht einmal vier Jahren seiner Amtszeit hat Janukowytsch die Situation im Staat und in der ukrainischen Gesellschaft bis zum äußersten Spannungsgrad zugespitzt. Noch schlimmer – er hat sich selber in eine Sackgasse getrieben, da er in dieser Situation ewig an der Macht bleiben soll und auch seine Macht mit jeglichen Mitteln aufrechterhalten will. Sonst beginnt für ihn eine rigorose kriminelle Verantwortung. Die Ausmaße von Diebstahl und Unterdrückung übersteigen alle Vorstellungen von menschlicher Gier.

Die einzige seit über zwei Monaten von dem Regime angewendete Antwort auf die friedlichen Proteste ist die eskalierende Gewalt, die man als eine Art „kombinierte“ Gewalt bezeichnen kann: einerseits erfolgen Angriffe der Polizeieinheiten auf den Majdan, andererseits werden oppositionelle Aktivisten und die einfachen Teilnehmer der Protestaktionen einzeln verfolgt (Beschattung, Prügeln, Anzünden von Autos und Häusern, Einbrüche in Wohnungen, Verhaftungen, Rollbände der Gerichtsprozesse). Einschüchterung wird zum Schlüsselwort. Da die Einschüchterungen keine Wirkung zeigen und die Menschen immer zahlreicher protestieren, greift die Regierung zu immer brutaleren Repressalien. Eine gesetzliche Basis für die Repressalien wurde am 16. Januar geschaffen, als die vom Präsidenten voll und ganz abhängigen Abgeordneten mit allen erdenklichen Reglements-, Tagesordnungs- , Abstimmungsprozedur- und Grundgesetzverletzungen mit einfachem Händeheben (!) in nur wenigen Minuten (!) eine ganze Reihe von Gesetzesänderungen verabschiedet haben, die das Land mit Sicherheit in eine Diktatur und einen Ausnahmezustand führen, auch wenn ein Ausnahmezustand gar nicht verhängt wird. Während ich, um nur ein Beispiel anzuführen, diese Zeilen schreibe und weiterleite, kann ich gleich nach mehreren Artikeln vor Gericht erscheinen: für „Verleumdung“, „Aufwiegeln“ u.ä.

Mit einem Wort: werden diese „Gesetze“ anerkannt, kann jeder behaupten, in der Ukraine sei alles verboten, was durch die Regierung nicht erlaubt ist. Und die Regierung gibt ihr Erlaubnis nur für das Eine: den unbedingten Gehorsam der Regierung gegenüber.

Die ukrainische Gesellschaft konnte sich mit solchen „Gesetzen“ nicht zufrieden geben, deshalb begannen schon wieder am 19. Januar die Massenproteste, in denen es um die Zukunft des Landes geht.
Heute kann man in TV-Nachrichten aus Kyiw Protestierende in unterschiedlichsten Helmen und in Gesichtsschutzmasken sehen, manchmal halten sie Holzknüppel in den Händen. Sie dürfen nicht glauben, dass Sie „Extremisten“, „Provokateure“ oder „Rechtsradikale“ vor sich haben. Sowohl ich wie auch alle meine Freunde erscheinen nun zu den Kundgebungen in solcher Ausrüstung. So schnell sind wir – ich, meine Frau, meine Tochter, meine Freunde – zu Extremisten geworden. Wir haben keinen anderen Ausweg, unser Leben und unsere Gesundheit zu verteidigen. Auf uns zielen die Kämpfer der Polizeieinheiten, unsere Freunde werden von ihren Scharfschützen getötet. Die Zahl der Protestierenden, die allein im Regierungsviertel in den letzten zwei Tagen getötet wurden, beträgt nach unterschiedlichen Angaben zwischen 5 und 7 Personen. Die Verschollenen in ganz Kyiw zählt man bereits in Dutzenden.

Wir können mit den Protesten nicht aufhören, weil das bedeuten würde, wir nehmen unser Land als ein lebenslanges Gefängnis in Kauf. Die jungen Ukrainer, die postsowjetischen Generationen, vertragen keine Diktatur mehr. Wenn die Diktatur siegt, muss Europa mit der Perspektive rechnen, ein Land wie Nordkorea an der europäischen Ostgrenze zu bekommen. Außerdem wird das für Europa eine Flut von Flüchtlingen zwischen 5 und 10 Millionen bedeuten. Ich möchte niemanden erschrecken. Unsere Revolution ist die Revolution der Jugend. Und diesen nicht erklärten Krieg führt die Regierung vor allem gegen die Jugend. Mit der nächtlichen Dunkelheit erscheinen auf den Kyiwer Straßen undefinierte Menschengruppen „in Zivil“. Sie machen hauptsächlich Jagd auf die jungen Menschen, die kleine Abzeichen oder Markierungen des Majdans oder der EU tragen. Die Jugendlichen werden gefasst, in Wälder gebracht, nackt ausgezogen und im harten Frost gefoltert. Ist es Zufall, dass junge Künstler– Theaterdarsteller, Maler, Dichter – auffallend oft Opfer dieser Überfälle werden? Man gewinnt den Eindruck, dass im Lande etwas wie „Todesschwadrone“ walten, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Besten auszurotten.

Und noch ein bemerkenswertes Detail: in den Kyiwer Krankenhäusern werden den protestierenden Verletzten Polizeifallen gestellt. Die Protestierenden (ich muss das noch einmal betonen: die verletzten Protestierenden!) werden in Krankenhäusern gefasst und zu Verhören an unbekannte Orte gebracht. Sogar für die zufälligen Opfer einer Polizeigranate ist es gefährlich geworden, einen Arzt aufzusuchen. Die Ärzte zucken die Achseln und liefern ihre Patienten den sogenannten „Rechtsschützern“ aus.

Zusammenfassend möchte ich sagen: in der Ukraine geschehen massenhaft Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und die Verantwortung für die Verbrechen trägt die jetzige Staatsmacht. Wenn man hier von Extremisten spricht, kann das nur auf die Staatsmacht zutreffen.
Und nun zu den beiden traditionell kompliziertesten Fragen: ich weiß nicht, was weiter geschieht, so wie ich nicht weiß, was Sie heute für uns tun könne. Sie können immerhin diesen Artikel hier weiterleiten und publizieren. Was noch? – Seid in Gedanken bei uns. Denkt an uns. Wir werden auf jeden Fall siegen, wie grausam die da auch vorgehen mögen. Die Ukrainer verteidigen heute buchstäblich mit eigenem Blut die europäischen Werte einer freien und gerechten Gesellschaft. Und meine Hoffnung besteht darin, dass Sie das zu schätzen wissen.

Ausstellung: Euromaidan. Besetzte Räume.

Kiew: im Epizentrum der Massenproteste

Fotoausstellung von Yevgenia Belorusets. Im Projektraum OKK in Berlin 13359, Prinzenallee 29, Eröffnung: 31. Januar, 19 Uhr. Geöffnet: 31.1.-15.2., Do.-So. 15 – 19 Uhr

Schon seit einigen Tagen ist es aus mit dem friedlichen Protest in Kiew. Meine Fotografien sprechen davon, was auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist: eine besondere Protestkultur, die es so nur in der Ukraine gegeben hat und die in manchem an ein Volksfest erinnerte. Und die in mancher Hinsicht verwiesen hat auf die eingeführten Spektakel vergangener Jahrhunderte: Verfolgung und öffentliche Bestrafung von „Verrätern“, das Florieren von Ritual und mythologischem Denken.

Die während der gesamten Protestzeit immer wieder geführten Diskussionen zwischen Vertretern unterschiedlicher Ansichten über die Zukunft gehen nun im schwarzen Rauch der brennenden Decken unter. Die Meinungsverschiedenheiten verschwinden mit den vernichteten Leben. Wenn ich mir diese Fotos anschaue, steht mir immer vor Augen: fünf Tote, unzählige Verletzte.

In der Kiewer Innenstadt geht der gewaltsame Widerstand weiter. Auf dem Euromajdan verschwinden Menschen, Unbekannte in Zivil nehmen sie mit, dann erfahren wir aus den Nachrichten, dass sie geschlagen und gefoltert wurden. Über dem Kiewer Protest schwebt nicht mehr die schemenhafte Europa-Idee, sondern der Hass auf die Macht, die Forderung nach Veränderungen und die direkte Bedrohung für Leib und Leben.

In vielen Medien wird derzeit über die Angriffe von Seiten der Protestierenden geschrieben. Aber die autoritäre Gewalt von Seiten des Staates ist und bleibt in ganz anderen Ausmaßen grausam, brutal und sinnlos. Es ist die Gewalt eines zerfallenden Systems, das allein die Existenz eigenständiger politischer Formen von anderem Denken ablehnt. Diese Gewalt ist ansteckend, sie will unsere Immunität, unsere Widerstandsfähigkeit, unseren Glauben daran zerstören.

Nach langem Zögern habe ich mich entschlossen, meine Ausstellung zum friedlichen Protest in Kiew dennoch zu zeigen und nicht aufzuschieben. Die Fotografien, die in dem geschützten Raum der Berliner Galerie zu sehen sind, zeigen friedliche Demonstranten. Wir sehen sie in Momenten des Durchatmens, in Erwartung. Ihr eiserner Wille, sich der ukrainischen politischen Realität nicht zu unterwerfen, ihr Misstrauen gegenüber der großen Politik machen Eindruck.

Sie haben etwas gewagt, sie haben verschiedene, mitunter auch nationalistische Losungen verbreitet und hatten damit oft etwas ganz Anderes im Sinn, das sich nicht in das nationalistische Dogma einschreibt. Genau dieser Ungehorsam, und sei er auch noch so unterschwellig, macht mir Hoffnung.

Aber jetzt, wo das Leben von vielen Menschen in Gefahr ist, fällt es schwer, die Ergebnisse des Protestes in den Blick zu nehmen, ebenso die Hoffnungen, jetzt müssen wir uns dem zuwenden, was auf unseren Straßen und Plätzen passiert.

KONTAKT: OKK, Pablo Hermann, E-Mail: pablorion@yahoo.com, 017625857519
Yevgenia Belorusets, E-Mail: belorusezjen@gmail.com

Die Ausstellung wird unterstützt von translit e.V.

HINTERGRUND

Der Platz der Unabhängigkeit (Maidan Nezalejnosti) ist einer der zentralen Plätze in der rund drei Millionen Einwohner-Stadt Kiew. Seit dem 21. November 2013 versammelt sich bis zum heutigen Tag die größte Protestbewegung der Ukraine seit der Orangenen Revolution. Diese Bewegung gab sich den Namen „Euromaidan“. Eine eigenständige politische Positionierung des Maidans formiert sich erst mit der Zeit. Währenddessen fungiert er als Bühne für verschiedene, mitunter zutiefst widersprüchliche Standpunkte.
Die Ausstellung Euromaidan. Besetzte Räume. würdigt den Alltag der Protestierenden: in den besetzten Regierungsgebäuden, im Kiewer Rathaus, im Haus der Gewerkschaften und im Oktoberpalast.
Yevgenia Belorusets ist Künstlerin, soziale Aktivistin und Autorin aus der Ukraine. Sie lebt in Kiew und Berlin (www.belorusets.com).

Der Projektraum OKK (Organ kritischer Kunst www.kritische-kunst.org) ist eine Plattform für kulturellen Aktivismus und kritische Kunst in Berlin.

Flyer zur Ausstellung

NZZ: „Ein Bündnis gegen die Macht“

In der Neunen Züricher Zeitung vom 18.12.2013 ist ein Artikel des ukrainsichen Schriftstellers Andrij Bondar zu den aktuellen Protesten in Kiew erschienen. Sie finden den Artikel hier.

Beitrag von Katja Petrowska zum Euromaidan

Auf der Website der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist am 14.12. unter dem Titel „Was uns Kiew angeht“ ein Artikel der diesjährigen Imgeborg-Bachmann-Preisträgerin Katja Petrowska zum Euromaidan in Kiew erschienen, den Sie hier nachlesen können.

Gegenwärtige Situation in der Ukraine

Zu den aktuell in der Ukraine stattfindenden Protesten für eine Unterzeichnung des mit der EU ausgehandelten Assoziierungsabkommens berichten alle deutschen Medien. Am 12.12. ab 22.45 ist die Situation in der Ukraine Thema in der Talkshow Beckmann im ersten Programm der ARD.

Vor Ort in Kiew sind unter anderen die FAZ mit Ihrem Korrespondenten Konrad Schuller und ZEIT-Online mit dem Reporter Steffen Dobbert.

Hintergrundinformationen bietet die neueste Ausgabe der Ukraine-Analysen vom 11.12.