Wer macht den Schnee? (Kinderbuch)

Je größer die Maulwurfkinder werden, desto weniger können sie sich vorstellen, dass sie mal in Papas Manteltasche gepasst haben. Ja, dass dort sogar bequem Platz war wie in einer Höhle. Sie hatten Decken, kleine Fläschchen mit Saft, eine Tüte Trockenfrüchte, ihre Lieblingsbilderbücher und allerlei Spielzeug dabei. Anfangs schliefen Flinkfuß und Friednike die meiste Zeit und interessierten sich nicht die Bohne für das, was außerhalb der Jackentasche passierte. Hin und wieder lief Papa Maulwurf sehr schnell und sprang mal über einen Baumstamm, mal über eine Wurzel, dass die Jacke nur so herumschlackerte. Dann schaukelte es so heftig in der Jackentasche, dass die beiden Maulwurfkinder sich an den Händen hielten, während sie von einer Ecke in die andere geschleudert wurden. Sie taten dann so, als wäre die Jackentasche ein Schiff, das in einen furchtbaren Sturm geraten war. Bei Sturm konnte man natürlich keinen Saft trinken und keine Bilderbücher anschauen. Das ging nur, wenn Papa Maulwurf stehen blieb und sich mit jemandem unterhielt oder einfach mal verschnaufte.

 

Illustration von Marjana Prochasko

Illustration von Marjana Prochasko

Eines Morgens bekam Friednike von Wortkarg ein altes Fernglas und Allesweiß zeigte Flinkfuß ein verstecktes Loch in der Jackentasche, durch das man den Wald beobachten konnte. Von da an veränderte sich ihr Leben. Sie sahen, dass die Welt viel größer war als die Jackentasche und dass man sie auf ganz verschiedene Weise betrachten konnte. Schaute man von einer Seite durch das Fernglas, gab es ganz viel zu sehen. Aber die Dinge waren ganz klein. Drehte man das Fernglas um, wirkten die kleinen Dinge riesig groß und zum Greifen nah.

 

Als Papa Maulwurf zum Beispiel den Pfad zum Hügel hinauf lief, sah Flinkfuß auf einem Farnblatt eine Ameise, die in einem Tautropfen badete.

 

„Friedi, schau mal!“, rief Flinkfuß und gab Friednike das Fernglas.

 

„Was ist das, Flinki? Oho! Eine Riesenschlange!“ In Wirklichkeit sah Friednike einen Regenwurm. Denn Papa Maulwurf war längst weitergegangen. Weil sie einander immer riefen, wenn der eine dem anderen etwas zeigen wollte, hatten sie sich Abkürzungen für ihre Namen ausgedacht. Flinkfuß wurde Flinki und Friednike wurde Friedi.

 

Vom Hügel aus konnte man den ganzen Wald überblicken. In der Ferne waren Berge zu sehen, auf denen noch Schnee lag. Papa Maulwurf setzte sich auf einen Baumstumpf und ließ die Gedanken schweifen.

 

„Guten Tag, Herr Maulwurf!“, sagten plötzlich zwei Elstern und landeten neben ihm im Gras. „Bei uns gibt´s nichts Neues. Es ist niemand krank.“

 

Die Elstern waren die Waldkrankenschwestern und halfen der Eule, die Chefärztin und zugleich einzige Ärztin im Buchenwald war.

 

„Aber das ist doch die beste Nachricht, die es geben kann!“, sagte Papa Maulwurf und holte seinen Notizblock hervor.

 

„Hurra! Im Buchenwald sind alle gesund!“, notierte er die erste Nachricht des Tages. „Frau Eule und die Elstern haben nichts zu tun“, fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu.

 

Dann war es Zeit, weiterzugehen. Auf der anderen Seite des Hügels gab es unten einen Laden, in dem man alle möglichen Leckersachen kaufen konnte. Dort arbeitete die stumme Frau Marder. Papa Maulwurf schrieb in der Zeitung immer, welche exotischen Früchte und Delikatessen es gerade bei Frau Marder zu kaufen gab. Bei dieser Gelegenheit nahm er für die Kinder auch ein paar bunte Bonbons mit. Er war schon fast am Laden, da entdeckte er im Brombeergebüsch am Wegesrand etwas Interessantes. Auf dem Boden lag einsam und allein ein wunderschönes blaues Ei.

 

„Komisch“, sagte Papa Maulwurf. „Zu welchem Vogel wohl dieses Ei gehört? Und wie ist es überhaupt hierher gelangt? So etwas hat es in unserem Wald noch nie gegeben. Das könnte eine Sensation werden!“ Er hob das Ei auf und nahm es mit in den Laden.

 

Frau Marder saß auf einem Korbstuhl und um sie herum lagen mehrere Pakete, die die Störche aus Afrika mitgebracht hatten.

 

„Schauen Sie mal, was ich gefunden habe!“ Papa Maulwurf zeigte ihr das Ei. „Sicher vermisst es schon jemand.“

 

Weil die Marderin nicht sprechen konnte, gestikulierte sie mit Händen und Füßen. Die Tiere im Buchenwald waren es schon gewohnt, sich auf diese Weise mit ihr zu unterhalten.

 

„Da haben Sie Recht!“, sagte Papa Maulwurf.

 

Die Marderin hatte nämlich vorgeschlagen, das Ei mit ins Waldcafé zu nehmen und dort den Gästen zu zeigen. Vielleicht würde es jemand erkennen. Papa Maulwurf legte das Ei vorsichtig zu den Kindern in die Jackentasche. Dann fragte er: „Was ist denn in diesen Paketen? Früchte aus Afrika? Vielleicht sogar Datteln? Da würde sich meine Frau aber freuen.“

 

Es dauerte ein Weilchen, bis Papa Maulwurf eine Antwort bekam. Die Marderin war nämlich noch gar nicht dazu gekommen, die Pakete auszupacken. Mit einer Schere zerschnitt sie die Schnüre, mit denen die Säcke und Kisten zugebunden waren. Exotische Düfte stiegen auf. Papa Maulwurf holte wieder seinen Notizblock hervor und betrachtete neugierig die Waren. Aber die meisten Früchte kannte er gar nicht beim Namen. Da nahm Frau Marder seinen Stift und sein Notizbuch und schrieb auf eine leere Seite:

 

„Feijoa, Maracuja, Mango, Vanille, Kakao, Bananen und Datteln.“ Hinter das Wort ´Datteln´ machte sie drei Ausrufezeichen.

 

„Die neue Ausgabe des MAULWURFSPIEGELs wird wirklich interessant!“, sagte Papa Maulwurf, nachdem er das Gekritzel der Marderin entziffert hatte. „Morgen kauft der halbe Wald bei Ihnen ein.“

 

Frau Marder klatschte vor Freude in die Hände.

 

Papa Maulwurf verabschiedete sich und trat ins Freie. Da schepperte es hinter ihm plötzlich ohrenbetäubend laut. Die Stumme Marderin stand in der Tür und schlug mit einem Löffel gegen eine Metallschüssel.

 

„Die Bonbons“, dachte Papa Maulwurf. „Ich hab aber auch ein Gedächtnis wie ein Sieb!“

 

Er ging zurück, kaufte zwei gelbe und zwei rote Bonbons (denn zu viel Süßes war nicht gut für die kleinen Maulwurfkinder) verneigte sich noch mal vor der Marderin und ging weiter.

 

Von dem Tohuwabohu, das die Marderin veranstaltet hatte, waren die Kinder in der Jackentasche aufgewacht.

 

„Oh Bonbons“, sagte verschlafen Flinkfuß. „Komm, wir teilen!“

 

„Aber gerecht“, antwortete Friednike bedächtig. Genüsslich lutschten die Kinder die süßen Bonbons, bis Flinkfuß erschrocken rief:

 

„Friedi, was ist das denn?!“

 

„Keine Ahnung!!!“, antwortete Friednike ebenso verwundert. „Das war vorhin aber noch nicht da!“

 

Während Papa Maulwurf lediglich noch kein Ei dieser Art gesehen hatte, waren Flinkfuß und Friednike nämlich überhaupt noch keinem Ei in ihrem Leben begegnet.

 

„Wozu ist denn diese Kugel da? Kann man damit vielleicht spielen?“, überlegte Flinkfuß. Die Maulwurfkinder betrachteten und befühlten von allen Seiten neugierig das Ei. Flinkfuß drehte das Ei um, rollte es hin und her, klopfte, lauschte und leckte sogar daran.

 

„Lass uns lieber Papa rufen“, sagte Friednike.

 

Bevor Flinkfuß antworten konnte, bekam die Kugel genau in der Mitte einen Riss. Die obere Hälfte wurde angehoben und flog plötzlich in eine Ecke der Jackentasche. Im unteren Teil der Schale stand jemand Schreckliches. Er war fast genauso groß wie die Maulwurfkinder. Vom Aussehen her ähnelte er ein bisschen den Vögeln, die die Kinder durch das Loch in der Jackentasche beobachtet hatten. Ein bisschen sah er aber auch aus wie der Drache in ihrem Bilderbuch. Er war vollkommen kahl, hatte einen riesigen Schnabel und scharfe Krallen. Die nackten Flügel schlugen bedrohlich hin und her und der Kopf drehte sich mit geschlossenen Augen nach allen Seiten.

 

„Sind Sie ein Drache“, fragte die erschrockene Friednike höflich.

 

Der Unbekannte antwortete nicht.

 

„I wo! Das ist ein Vogel!“, sagte Flinkfuß ruhig. „Schau, Friedi! Ich fass ihn jetzt an.“

 

Flinkfuß legte dem Gast seine Hand auf die Schulter. Der hörte auf den Kopf zu drehen und blieb starr stehen.

 

„Hab keine Angst“, sagte Flinkfuß und streichelte ihm über den Rücken. Da passierte etwas, was die Kinder am Abend nicht mal ihrer Mama erzählen konnten. Nicht, weil sie nicht wollten, sondern weil alles so schnell ging, dass sie es gar nicht richtig verstanden.

 

Also als Flinkfuß diesen Typen freundlich streichelte, setzte der sich mit dem Rücken zu Flinkfuß hin und schob sich rückwärts unter den Maulwurfjungen. Dann stellte er sich plötzlich auf und schob Flinkfuß in Richtung Jackentaschenrand.

 

„Eeeeeeeehhhhhhhh!“, rief Flinkfuß wütend. Aber den Typen ließ das kalt. Er schob den kleinen Maulwurf immer weiter zur Tasche hinaus. Die Hinterbeine hingen schon in der Luft. Mit den Vorderbeinen klammerte sich Flinkfuß fest an den Kopf mit dem Schnabel. Im nächsten Moment fielen beide ins Gras. Da sah Flinkfuß Vögel. Sie waren zu zweit und flogen wie der Blitz auf ihn zu. Doch sie interessierten sich gar nicht für den Maulwurfsjungen. Die beiden Vögel schnappten sich ihr eigenes Junges und jagten hinauf in die hohen Wipfel der Kiefernbäume.

 

„Ich hab doch gesagt dass es ein Vogel und kein Drache ist“, frohlockte Flinkfuß kaum hörbar.

 

„Herrje, Kind“. Papa Maulwurf bemerkte erst jetzt, dass etwas nicht stimmte. Er hob den verschreckten Flinkfuß hoch und nahm die verweinte Friednike aus der Jackentasche. „Kinder! Meine Lieben! Wie konnte ich so unaufmerksam sein!“ Papa Maulwurf war ganz aufgewühlt und drückte seine beiden Kinder zärtlich an sich.

 

„Papa, er hat Flinkfuß aus der Tasche geschoben!“. Friednike schluchzte.

 

„Wer er? Was sagst du da?“, fragte Papa Maulwurf besorgt.

 

„Dieser unverschämte Typ, der aus der blauen Kugel gekrochen ist!“

 

„Waaas? Aus der blauen Kugel? Aus diesem Ei?“ Papa Maulwurf durchsuchte die Jackentasche. Statt des Eis, das er im Café herumzeigen wollte, fand er nur noch Schalen. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Deswegen waren die zwei Habichte so nah an ihm vorbeigeflogen und hatten nicht einmal gegrüßt. Sie wollten geschwind ihr Junges aufsammeln. Es war aus dem blauen Ei geschlüpft, welches er im Wald gefunden und unvorsichtigerweise zu den Kindern in die Tasche gesteckt hatte. Da hast du deine Sensation!

 

„Hauptsache, die Eltern haben ihr Junges gefunden. Egal, ob im Ei oder ohne Ei“, verkündete Papa Maulwurf.

 

„Na gut, aber unverschämt ist er trotzdem“. Friednike bestand darauf.

 

Da sagte Papa Maulwurf:

 

„Nach dieser ganzen Aufregung können wir gar nicht anders als uns etwas Gutes zu tun. Ich lade euch ins Café zu Ingwertee und Nusskeksen ein.“

 

„Können wir vielleicht selbst dorthin laufen?“, fragte Flinkfuß.

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„Gut, wir probieren es. Die Jackentaschenzeit scheint vorbei zu sein. Jetzt heißt es selber laufen“. Papa Maulwurf lachte, obwohl es ihn auch ein bisschen traurig stimmte, dass die Kinder so schnell groß geworden waren.

 

Er setzte Flinkfuß und Friednike vorsichtig auf die Erde und nahm sie an die Hand. Gemeinsam schlenderten sie durch den schattigen Wald zur großen Eiche.

 

Über das Buch

Mit der Geburt von Zwillingen in eine fünfzehnköpfige Maulwurfsfamilie beginnt eine Reihe Abenteuer in Wald und Wiese. Sie sind mit den typischen Fragen und Problemen von Kindern konfrontiert, aber sie finden auch Antworten und unkonventionelle Lösungen, die sich nicht nur an Kinder sondern auch an die (mit- bzw. vorlesenden) Eltern richten. So nimmt Vater Maulwurf die kleinen Neugeborenen in seiner Jackentasche mit zur Arbeit bei einer Zeitung. Die Maulwurftochter lernt hartnäckig schwimmen und kann dadurch einen Maulwurfjungen vor dem Ertrinken retten. Ihr Bruder hat aufgrund eines traumatischen Erlebnisses Angst vor Vögeln, lernt dann jedoch, dass Mut haben spannend sein kann. Schließlich erleben und genießen die Kinder des Waldes gemeinsam den ersten Schnee und lernen z.B. wer den Schnee macht. Die Geschichten sind kurzweilig erzählt, trösten und locken mit witzigen Details immer wieder ein Schmunzeln hervor. Einfache, alltägliche Begebenheiten, typische Kinderfragen und Jahreszeiten aus Perspektive des Kindes erlebt. Der Autor Taras Prochasko hat sich als Prosaautor und Journalist einen Namen in der Ukraine gemacht. Sein Roman „Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen“ ist in deutscher Übersetzung von Maria Weissenböck bei Suhrkamp erschienen. Die Buntstiftzeichnungen seiner Ehefrau Marjana sind mal detailreich, mal auf das Wesentliche beschränkt, aber immer emotional und ausdrucksstark.