Texte von Arkadij Ljubtschenko

Inhalt

Solo einer ruhelosen Lyrik

Rasend-rasch verfliegen unsere Tage, rauschen durchs Leben wie ausgedehnte Steppen, unsere üppigen Monate ziehen vorüber wie stolze, in Gedanken versunkene Schiffe, unsere Jahre …

All das geschieht, wie Sie wissen, fast unmerklich und einfach so.
Stellen Sie sich vor: So ein Tag, an dem Sie einfach alleine sein wollten. Sie hatten es absolut satt: all diese Gesichter, Worte, Gesten, der unaufhörliche Lärm der Straßen, die unermüdliche Bewegung der Arbeit und der Zug, der Sie durch den köstlichen Sturm des Lebens trägt, hielt plötzlich an einer kleinen Station irgendwo in der Steppe, um sich dann im nächsten Moment noch schneller fortzubewegen.

So ein Tag, an dem Sie, obwohl Sie Zeit hatten (oder vielleicht eben deshalb, weil Sie sie hatten), nicht zu der interessanten Lesung gegangen sind, nicht auf die Pirsch, nicht angefangen haben, ein neues Buch zu lesen, und mit niemandem ein langes Streitgespräch geführt haben, sondern einfach… angefangen haben, aus einem unerfindlichen Grund mit beträchtlicher Aufmerksamkeit Ihren Schreibtisch aufzuräumen, obwohl Sie so eine trockene Ordnung auf dem Tisch seit jeher nicht gut fanden und vielleicht auch jetzt nicht mögen werden.

Sie taten das nur deshalb, weil es heute schien, als hätten Sie den rebellischen Angriff der Widersprüche durchschaut, und sich Ihre Aufmerksamkeit genau auf die Stelle richtete, an der die sich begegnenden Kräfte am stärksten wirbelten, an der sich massenhaft Gedanken berührten, an der starke Gefühle aufeinandertrafen, an der zwischen Hügeln, über denen Rauch aufstieg, tiefen Schanzen und dem Wirrwarr der Kämpfern die Sieger dahingaloppierten und die Besiegten stöhnten, an der neue Erfolge erreicht und neue Belagerungen vorbereitet wurden.
Sie hatten gerade angefangen, Ihren Tisch aufzuräumen, als Sie wieder einen tiefen inneren Protest verspürten.
Oh, diese großen, sauberen, naiv lächelnden Tische, die man so oft bei uns sieht, Tische, die an eine fragwürdige Unschuld, eine stark geschminkte Schönheit, erzwungene Koketterie denken lassen. Diese ruhigen, akkurat geordneten Tische, von denen eine kühle Brise ausgeht, dieser akkurat arrangierte, wie festgenagelte Krimskrams auf den Tischen, der die Gedanken fesselt, diese besonders akkurat gestapelten Bücher und Papiere, die überhaupt nichts aussagen, nicht leben, nichts auslösen. Diese tote Ausstellung, der Stolz eines wohlgenährten Neureichen, diese sorgfältig aufgeräumte Oberfläche, unter der wertvolle Ablagerungen zu finden kaum Hoffnung besteht, diese pomadisierte, früh- oder rechtzeitige Glatze, unter der am häufigsten mit Erscheinungen von Trägheit und orthodoxer Arroganz gerechnet werden kann.
Nein, Sie haben solche schillernd geschmückte Tote noch nie gemocht und werden sie auch nie mögen, Sie werden niemals, so sehr Sie sich auch bemühen, eine ähnliche Ordnung auf Ihren Schreibtisch bringen, denn am Ende, selbst wenn Sie sie eingeführt haben, werden Sie bald vielsagendes Lachen von der Seite vernehmen: Was Sie für Ordnung halten, erscheint vielen weiterhin als samüsantes Durcheinander.
Dann, nachdem Sie die Sachen teils beiseitegeschoben, teils möglichst bequem auf der Tischplatte ausgelegt hatten, fingen Sie an, eine schwere Schublade nach der anderen herauszuziehen und zu durchwühlen. Dabei stießen Sie neben anderem lächerlichem Zeug auf einige Notizbücher.
Jawohl, genau solche schäbigen Notizbücher, die man immer halb vollgeschrieben nachlässig in die Ecke wirft , die dann allmählich in die entferntesten Winkel verschwinden und die man langsam vergisst. Notizbücher, von denen die meist keine einzige Zeile auf die glänzende Oberfläche des öffentlichen Interesses trifft. Denn gerade in ihnen, den Notizbüchern, sammelt sich am ehesten jenes freudvolle Unnütze, das unbedingt niedergeschrieben werden muss, aber nirgendwo im freudlosen Überfluss auftauchen muss.

Diesmal dagegen begannen Sie voller unbegreiflicher Unrast (es gibt solche ruhelosen Tage), die Seiten dieser schäbigen Zeugen der Wissbegier und der Sorgen zu durchblättern. Sie müssen zustimmen: Ab und zu wurde es wirklich interessant.
Allmählich vertieften Sie sich. Sie lächelten, zwinkerten manchmal, seufzten manchmal, wunderten sich manchmal, und wenn Sie mit einem fertig waren, fingen Sie unbewusst an, durch das Nächste zu blättern. Ob Sie wollten oder nicht, später überkam Sie eine seltsame, etwas lyrische, etwas unruhige Stimmung. Sie dachten: Rasend-rasch verfliegen unsere Tage, rauschen durchs Leben wie ausgedehnte Steppen, unsere üppigen Monate ziehen vorüber wie stolze, in Gedanken versunkene Schiffe, unsere Jahre fließen vorbei ins Unbekannte und kehren nicht zurück…
Wieso, weshalb verfliegen die Tage so rasch? Warum kann man mit seiner Hand nicht die Hand eines Freundes halten und sie noch einmal, noch fester drücken?
Warum wird es diesen stürmischen Aufruhr der ersten Nacht nicht noch einmal geben, warum existiert eine zweite Nacht, warum kommt die dritte so unerbittlich geschwind? Warum nähern sich Schatten so unmerklich und kompromisslos und warum spannt sich ein silbernes Spinnennetz verfänglich wie über einem fernen Tal? Ist es wirklich nicht möglich, wie in diesem ukrainischen Lied, die Rappen zu satteln und ihnen nachzueilen?
„Wir kommen nicht zurück!“

Genau! Wie stolze, in Gedanken versunkene Schiffe ziehen sie vorüber ins Unbekannte und kehren nie zurück …
Und Sie dachten: Das ist toll. Es ist toll, dass sie nicht zurückkehren, auch wenn es einem manchmal sehr leidtut. Es ist toll, dass die Möglichkeit besteht, den früheren Schmerz zu lieben und der früheren Freude nachzutrauern. Es ist toll, weil es unerschöpfliche Schätze in sich birgt, weil es bedeutet, Tag für Tag unbezwingbar neuen Schmerz und neue Freude zu wollen, es bedeutet, das Leben unaufhörlich und tief zu lieben.

Sie dachten: Die Zeit vergeht, und irgendwo in den hintersten Winkeln des Lebens bleiben Notizbücher eins nach dem anderen stecken, so zerknittert und wahrscheinlich zu nichts mehr gut. Das Gestern wurde vom Heute besiegt, und das Heute ist sich keineswegs sicher, dass es der Sieger des nächsten Tages nicht vollständig zerstören wird. Naive und strenge Freunde!
Sie drücken in erhabener Stimmung genauso jene fest an sich, die bereits rebelliert haben, wie auch die, die noch immer rebellieren.
Sie würden diese unbestechlichen Zeugen der Wissbegier und Sorge gern liebevoll streicheln.
Nein! Das ist nicht nötig! Und Sie wussten bereits, dass Sie es nicht tun würden.
An jenem Tag waren Sie in einer seltsamen Stimmung und Sie waren bereits versucht, Ihre Zärtlichkeit in etwas anderes umzuwandeln. An jenem Tag lastete auf Ihnen vor allem von der Angriff des Aufrufs und Sie waren deshalb versucht, die Notizbücher weiter auszubreiten, die Seiten noch entschlossener umzublättern. Sie waren bereit, trotz der etablierten Kanons nach bewegender Veränderung zu suchen, Sie waren bereit, trotz absoluter Veränderung nach etwas Einzigartigem, Unerschütterlich-Ganzem zu suchen.
„Mögen“, sagten Sie, „die Widersprüche leben, die alles vorantreiben, es lebe der stete Wandel! Mögen heute aus den vergangenen, schmerzhaften Gedanken, die sich verwandelt und zu Feuerstein verdichtet haben, Freudenfunken geschlagen werden, mögen heute unerschöpfliche Liebe und Begierde gezwungen sein, bebend zu lachen!“
Und schon blätterten Sie hastig die Seiten um.
Sie wählten nach Ihrem Geschmack beliebige Passagen, Sie passten Sie so weit wie möglich aneinander an, Sie kombinierten aus ihnen so viele verschiedene Situationen wie möglich – kurz und gut, unerwartet und begeistert schufen Sie ein vielfarbiges Werk. Es war, als würden Sie Einlegearbeiten aus einem Blatt zusammensetzen, das von einem Baum geflogen, in irgendeine Ecke gefallen oder unermüdlich im stürmischen Wirbelwind der Tage umhergewirbelt und aufgeflammt war.

Rasend-rasch verfliegen unsere Tage, rauschen durchs Leben wie ausgedehnte Steppen, unsere üppigen Monate ziehen vorüber wie stolze, in Gedanken versunkene Schiffe, unsere Jahre fließen vorbei ins Unbekannte und kehren nicht zurück…

 

Melodrama

Sie waren gerade von der Arbeit nach Hause gekommen. Sie waren etwas müde – der Tag war so stickig gewesen. Sie legten sich in Ihrem Zimmer hin, das außerhalb des Stadtzentrums lag und sich im zweiten Stock eines kleinen Gebäudes befand. Sie schlossen Ihre Augen, und sofort begann die angenehme, schattige Kühle Sie einzuhüllen, begann die gleichmäßige Stille, die Ihre Umgebung erfüllte, Sie zu beruhigen.
Irgendwo weit weg, wie in einigen Werst Entfernung oder tief unter der Erde, das unaufhörliche Brüllen der Stadt, doch hier: unveränderliche, dichte, kühle Stille.
Und plötzlich: Hören Sie das?
Aus diesem Großstadtlärm hob sich etwas besonders deutlich ab, flog durch das geöffnete Fenster, flatterte wie ein Vogel im Käfig, zitterte wie ein Vogel, sterbend, und seufzte einen letzten melodisch-metallischen Ton.
Fanfaren?
Irgendwo schienen silbertönende Fanfaren zu klingen.
Sie richteten sich auf. Das Orchester spielte bereits näher. Irgendwo in Ihrem Haus wurden ungeduldig Türen geknallt. Jemand rannte schnell den Flur entlang. Jemand machte ein schüchternes Geräusch. Jemand verschwand …
Und Sie traten ans Fenster.
Das rechte Fenster (es gibt noch ein linkes, gegenüberliegendes) blickte direkt auf den Friedhof, weil die Mauern Ihres Gebäudes unmittelbar an den Friedhof grenzten.
Sie bogen mit der Hand die Äste der Apfelzweige weg, die Sie behinderten – gleich drei Apfelbäume waren einst in diese Ecke geraten und hier überraschend üppig gewachsen, drei große Apfelbäume genau vor Ihrem Fenster.
Vom zweiten Stock aus sahen Sie unten den alten Zaun, der sich dicht an den Hausmauern entlang zog, so ein kraftloser, sinnloser Zaun. Es war, als würde er gebückt hinken, doch plötzlich gebeugt stehenbleiben und überlegen: Lohnte es sich, weiterzumachen?
Lohnte es sich, wenn ihn das junge Gebüsch so hartnäckig von allen Seiten umgab, sich dichte Triebe und Unkraut so beharrlich an jeden freien Fleck auf seinem Weg klammerte, ihn so eifrig bedrängte und sich anstrengte, den Rest so schnell wie möglich zu brechen?

Wenn Sie mit dem Blick weiterwanderten, sahen Sie gleich hinter dem Zaun unten ein üppiges Gestrüpp, Sie sahen, wie hier und da weiße oder schwarze Kreuze und Grabsteine aus diesem grünen Schaum hervorragten. Viele weitere, weiße und schwarze, gingen im Dickicht unter, viele waren schon völlig verfallen, verwittert, verschwunden, – es war der am wenigsten belebte Teil des großen Stadtfriedhofs.

Und wenn Sie einen Blick über die Apfelbäume warfen, weit in die Ferne, sah man wie unter leichten Dunst einen Streifen des gegenüberliegenden Hügels. Dort befand sich der linke Teil der Stadt. Dort befanden sich die neuen Viertel, die mit stolzen Häusern neuester Bauart, stolzen Gebäuden neuer Fabriken, Türmen neuer Schornsteine, mit immer neuen Trassen unaufhörlicher, gepflasterter Straßen, immer weiter in die ewigen Erdschichten eindringen.

Sie verspürten den Drang zur unruhigen Jagd in der Ferne. Sie zogen sich zurück ins Unbekannte der Legenden. Und dort, wo die Erinnerung an den tatarischen Wahnsinn lag, wo die Wölfe den gelben Knochen kauten, befand sich nun der mächtige steinerne Weg des Überlegenen, ein Spinnennetz aus Metallverbindungen, das die Hügel und Täler gewaltsam überzog.

Verneigt euch, Schimären des Altertums! Seid gehorsam!
Das Orchester hat aufgehört. Das war Chopins „Marche funèbre“. Es schien, auf der Seite, dort, wo der Zaun hinkte, ertönte in der Höhe das letzte leidenschaftliche Geräusch, schwebte über den Wipfeln und schmolz in der durchsichtigen Höhe…
Stattdessen erklangen Stimmen.

Sie bogen die Äste der Apfelbäume noch weiter zur Seite. Sie postierten sich bequemer und sahen: In der Ferne, vielleicht zwanzig Schritte entfernt, standen mehrere Männer unter einer fröhlichen Birke. Ihre Blicke waren auf ein sich näherndes Geräusch gerichtet. Sogleich warf einer hastig seine nicht zu Ende gerauchte Zigarette weg, trat sie aus, trampelte auf der frischen Erde aus dem gerade ausgehobenen Grab herum.

Natürlich war Ihnen alles klar: Jemand hatte die Erde für immer verlassen. Kurz darauf, als die Äste zur Seite gebogen waren, sahen Sie, dass da reichlich Leute waren, welche die sich windenden Reihen von Grabhügeln umgingen.

Sie beeilten sich, stolperten, überholten einander, stießen versehentlich zusammen, wurden aus Gewohnheit nervös und entschuldigten sich aus Gewohnheit. Jeder von ihnen wollte so gut wie möglich seinen Platz finden. Alle wollten jede Kleinigkeit verfolgen.
Leicht schwankend schwebte über den Köpfen der Sarg. Schwebte über den Köpfen, die Köpfe waren geneigt.
(Und warum nicht gerade in diesem Moment schauen, wo die Berge, wo die Sonne und die Vögel sind?).
Hinter dem Sarg eine Frau.
In einem schwarzen Kleid, eine traurige Frau, die von Freunden behutsam gestützt wurde. Jung, aber gerade ganz, ganz kraftlos. Sie schwieg, aber ihre Augen schrien in unausgesprochenem Flehen. Sie wirkte ergeben, aber das Taschentuch, das sie an ihre Lippen presste, zitterte ziemlich oft, zitterte so, dass es ihr fast aus ihren Händen fiel, und die Hände griffen unkontrolliert nach dem Sarg.
Aber nicht doch, gute Frau!

Sie hatten plötzlich den Wunsch, ihr Trost zuzusprechen. Sich einer Person so anzunähern und so zu sprechen, würde sie wahrscheinlich ein wenig ernüchtern. Herantreten und ein etwas ganz Einfaches, Aufrichtigen sagen, würde sie vielleicht etwas stärken. Und obwohl Sie wussten, dass Sie das nicht tun würden, überwanden Sie Ihr Zögern, gingen nach einer Weile hinunter, gingen am Zaun vorbei und näherten sich schließlich den Leuten.

Gerade hatte der letzte Redner seine Ansprache beendet. Sie begannen soeben die Nägel in den Sarg zu schlagen (diese besonders ohrenbetäubenden Schläge in die Ewigkeit), und Sie hörten, wie die Frau hoffnungslos aufschrie (und der Satz abbrach): „Mein Sonnenstrahl! Warte! Ich liebe dich so sehr! …“
Plötzlich herrschte Verwirrung in der Menge, dann trat plötzlich kurze Stille ein: Sie war in Ohnmacht gefallen.
In genau diesem Moment, als auch Sie mechanisch nach vorne gingen, um der Frau zu helfen, trat irgendwer einem der Orchestermitglieder auf den Fuß, denn dieser stieß schmerzhaft zischend, leise und gleichzeitig kräftig-hart einen Fluch aus.
Aber sogleich wirbelte wieder ein Donner der Fanfaren und verschluckte alles: sowohl den unerwarteten Fluch als auch den Lärm der Leute und das Geräusch der Erde, die sich bereits eilends über den Sarg ergoss.

Wenig später bemerkten Sie: Sie hatten es noch nicht geschafft, den Boden einzuebnen, und ein gutmütiger Mann ließ seinen Spaten stehen, rannte schnell heran und streckte Ihnen seine Hand entgegen: „Gestatten Sie … zum Gedenken …“
Tja, gefiel er Ihnen etwa nicht, dieser direkte Mann im gesprenkelten Hemd, der Sie um Geld für Alkohol bat? Er hatte recht. Immerhin war die übliche Geschichte passiert. Eine sehr verbreitete Geschichte: In einer Stadt ist ein Mensch gestorben.

Und der Mann hatte wohl keinen Zweifel daran, dass es der Stadt in dieser Zeit bereits gelungen war, mindestens zwei neue Menschen zur Welt zu bringen. Warum sich also nicht auf ein gutes Ende trinken und auf einen neuen, guten Anfang?

Sie erinnern sich: In der Menge wurde gewispert: „Sie hat ihn so sehr geliebt! Sie hatten gerade erst geheiratet. Er war dabei, ein neues, großes Haus zu bauen und stürzte von dem Gerüst, das er selbst aufgestellt hatte. Er stürzte von dem Gerüst, das zusammenbrach. Und sie, Liebes, ist so … „
Sie erinnern sich. In der Menge, so schien es, wurde der Name des Mannes gerufen, der von seinem eigenen Gerüst gefallen war. In seinem Klang schien er dem Namen eines ukrainischen Dichters und Lyrikers geähnelt zu haben, obwohl der Verstorbene kein Dichter war. Jedenfalls haben Sie ihn vergessen.
Jemand in der Menge sagte sogar ironisch: „Es wäre interessant zu wissen, was das für ein Gebäude geworden wäre, wenn schon das Gerüst so miserabel war.“

 

Seance mit einem indischen Gastkünstler

Manchmal konnten Sie abends, wenn Sie aus dem rechten Fenster schauten, eine traurige Gestalt sehen: Eine trauernde, alte, dunkel gekleidete Frau, die am Grab stand.
Ja! Sie kam meistens, wenn es anfing, dunkel zu werden. Kam mit einer Aktentasche oder einigen Papieren (offensichtlich direkt nach der Arbeit).
Hin und wieder brachte sie Blumen aus der Stadt mit, legte sie sorgsam dort ab, wo es ihr am besten erschien, und richtete von Zeit zu Zeit vorsichtig die Bänder der verwelkten Kränze. In diesem Moment, wenn ihre Finger sanft und liebevoll die Kränze berührten, ähnelte sie (ohne Übertreibung) Mazzolas „della Rosa“, die – Sie erinnern sich vielleicht – so anmutig, liebevoll und schützend ihre Hände über ihr Kind hält. In diesem Moment schien sie, so seltsam es Ihnen erscheinen mag, ein wenig wie die zurückhaltende „della Rosa“ zu lächeln, sie neigte sich ein wenig zur Seite, um besser überprüfen zu können, ob die Bänder schön lagen, und nachdem sie ihre Hand zurückgezogen hatte, hielt sie diese für ein Weilchen unbeweglich in der Luft wie einen weißen Vogel, der seinen Kopf neigt.

In diesem Moment wirkte sie ein bisschen wie ein Kind, und sie, die traurige Frau, wusste nicht, dass die Trauer ihr manchmal eine so perfekte Kontur, einen so zärtlichen und bedeutungsvollen Ausdruck verlieh.
Sie wusste nicht, dass es Momente gibt, in denen sie dem Werk von Mazzola tatsächlich ähnelte, wie ein originelles Beispiel für die Verbindung von Correggio und Raffael.
Bei ihrem Anblick vergaßen Sie, dass Sie ein Zigarettenetui in der Hand hielten, und erst später, wenn die Frau sich aufrichtete, zündeten Sie sich ruhig eine Zigarette an. Es war Ihnen unangenehm, dass Sie gleichsam die Seele eines anderen heimlich beobachteten, aber Sie konnten die Augen nicht abwenden.
Sie sahen: Sie stand regungslos wie ein Stein, stand den Blick fest auf den stummen Hügel geheftet, stand lange, blass und schön. Dann, wenn es dunkel wurde, kniete sie nieder, beugte sich tief und streichelte leicht, zärtlich, sanft die Erde auf dem Grab.

Und während die Dämmerung sich verdichtete, während die ganze Ecke von einem nebligen Gespinst bedeckt wurde, hörten Sie – was war das? – Schluchzen.
Aber nicht doch, gute Frau!
Sie zogen das rechte Fenster zu.
Dann, in der Stille des Zimmers, erinnerten Sie sich daran, dass Ihnen einst zufällig ein Buch des berühmten Inders aus Kapilavstu, des berühmten Shakyamuni in die Hände gefallen war.
Und da lasen Sie: „Was ist der Anfang allen Leidens?“.
„Es ist die Begierde, die von einer Geburt zur nächsten ruft und die unabdingbar von Freude und Leidenschaft begleitet wird: Die Begierde nach Genuss, Sein und Macht.“
Zuerst beeindruckte Sie das. Sie wiederholten langsam und beinahe laut die indische Weisheit, an die Sie sich so passend und so unpassend erinnert haben. Sie dachten angestrengt nach, so angestrengt, dass Sie sich am Ende sogar vorstellten, dass vor Ihnen, mit untergeschlagenen Füßen, der überall bekannte Buddha in seiner überall bekannten Position saß und leicht schwankend mit einem ruhigen und ein wenig listigen Ausdruck Ihnen genau jenen Gedanken vortrug:
„Was bedeutet das nun?“, fragten Sie. „Es bedeutet, was es bedeutet“, antwortete der uralte Sophist.
„Heißt das, Freude und Leidenschaft sind ein großes Übel?“ „Ja! Freude und Leidenschaft sind ein großes Übel.“ „ Heißt das, die Begierde, die von Geburt zu Geburt ruft, ist sehr schädlich?“ „Ja! Diese Begierde ist sehr schädlich.“
„Heißt das, wenn Sie diese Überlegungen anwenden … na, zum Beispiel auf eine Frau, also die Frau, die normalerweise die Begierde fördert und gebiert – ist sie unser Feind?“
„Ja! Um es kürzer und einfacher auszudrücken, sind wir uns selbst Feinde.“
„Hören Sie, Sie uralter Mann, ich frage Sie noch einmal: Behaupten Sie kategorisch, dass die Begierde nach Genuss, Sein und Macht der Weg zum Leid ist?“ „Genau das.“
„Und deshalb sind Sie wahrscheinlich in die Wüste gegangen, um sich dieser Begierde zu entziehen?“
„Das mögen Sie so verstehen … sich dieser Begierde zu entziehen.“
„Heißt das, es muss also so gewesen sein: Kaum, dass Sie vor den Menschen und dem Leben davongelaufen sind, waren Sie sofort wie tot?“
„Warten Sie …“
„Nein, passen Sie kurz auf. Heißt das, Ihnen zufolge muss es so sein: um das Leid zu vernichten, muss die lebensspendende Begierde vernichtet werden?“ „ So ist es.“ „Aber in diesem Fall liegen Sie völlig falsch, uralter Mann. Denn mit anderen Worten bedeutet das, Menschen in Tote und die ganze Welt in eine Wüste zu verwandeln.“
„Ach, Sie vereinfachen zu sehr! Aber drücken Sie sich aus, wie Sie wollen. Bedenken Sie nur eines: Es geht darum, Ruhe zu finden.“
„Ach, Sie vereinfachen aber unglaublich! Denn alles dreht sich gerade darum, tief zu graben und die Ruhe zu verbergen.“ „Nein, mein energischer Freund. Sie haben vergessen, was in meinen Avataren geschrieben steht: Erst wenn das Feuer der Lust, Sünde, Täuschung und des Stolzes erlischt, erst wenn alle Leidenschaften und Ehrlosigkeiten erlöschen, dann entsteht Ruhe, und endlich nähert sich der Mensch dem Nirwana.“ „Mit anderen Worten, verkürzt er sein eigenes Leben.“
„Was denn … Ihre scharfe Replik überrascht mich nicht, denn Sie sind offensichtlich ein hartnäckiger Anhänger der Idee der ewigen Materie.“ „Wahrscheinlich so sehr, wie Sie der Idee des ewigen Geistes folgen. Deshalb kann ich nicht genau begreifen, was Nirwana ist, und deshalb bitte ich Sie sehr, mir dieses Phänomen zu erklären.“ „Wenn Sie es ernst meinen, gerne.“ „Sehr ernst.“ „Nirwana, das ist Bewegung und Starre, Sein und Nichtsein, nicht erschaffenes und nicht geborenes, nicht begonnenes und nicht beendetes, aber es ist das Ende des Leidens. Dann ohne Schöpfung oder Geburt, ohne Anfang und Ende, aber es ist das Ende des Leidens.“

„So! Wissen Sie, uralter… Mann, was jemand anderes, noch hartnäckigeres an meiner Stelle jetzt sagen würde? Er würde sagen: Sie sind entweder ein echtes Original oder, verzeihen Sie, Sie sind … ein Hasenfuß. Ach, seien Sie nicht beleidigt! Das würde ein anderer sagen. Ich persönlich verstehe Sie voll und ganz und fühle mit Ihnen. Doch, doch! Ich fühle aufrichtig mit Ihnen, weil Sie nicht – hören Sie ? – Sie nicht schuld sind an dieser von Ihnen geäußerten Heuchelei. Ich verstehe sehr wohl, dass bei solchen Erkenntnissen in erster Linie das damalige Sein schuld ist. Und vor allem das ist der Grund.“
„Oh, was für ein übertriebener … modischer Kausalismus!“ „Wahrscheinlich genauso wie Ihr bizarrer und längst aus der Mode gekommener Illusionismus. Doch verzeihen Sie mir die Offenheit, Ihre Vermutungen erinnern an die Vermutungen jenes verwirrten Mönchs, der, zusammenfassend sagte: ‚Credo quia absurdum!‘ ‚Ich glaube, weil es widersinnig ist!‘ Erinnern Sie sich? Ich glaube, weil es widersinnig ist – Unsinn! Ich glaube, weil es unverständlich, unwirklich, erfunden ist. Welche Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, welche Verzweiflung! Und doch, lassen wir den Mönch. Ich möchte noch ein paar Worte an Sie richten.“
„Bitte.“ „Ich möchte Ihnen mit Ihren eigenen Worten abschließend sagen: Wenn die Begierde, die von einer Geburt zur nächsten ruft, ein Mittel gegen das Nirwana ist, dann lebe diese schöne Begierde!“ (Die Gestalt des Gastes erstarrte betroffen).
„Wenn eine Frau Begierde und Geburt fördert, wenn eine Frau einer der stärksten Reize ist, die niemals eine langweilige und schreckliche Ruhe erleben lassen, dann lebe diese schöne Frau!“ (Die Gestalt des Gastes zitterte nervös).
„Wenn die Begierde nach Freude der Beginn des Leidens ist, dann lebe das Leiden!“ (Die Gestalt des Gastes schwankte stark und begann zu verblassen).
„Wenn das Leiden wiederum der Beginn der Freude ist (und so muss es wohl sein), dann lebe das Leiden als ständiger Kontrolleur und Erquickung, einmal mehr!“ (Die Figur schmolz langsam und verschwand).
„Es lebe, was uns das Sein schenkt, der höchste menschliche Wert! Es leben die Widersprüche, die alles ständig vorantreiben! Es lebe das wunderbare bewegte Gleichgewicht! Es leben alle, die Dunkelheit hassen und Kraft lieben, alle, die Ruhe und Verzweiflung nicht kennen!“

Als Sie plötzlich bemerkten, dass niemand bei Ihnen war, fühlten Sie sich sehr erleichtert und von großer Zuversicht überwältigt, und Sie eilten zum rechten Fenster, um die trauernde Frau diesmal erhaben zu grüßen.
Aber in dieser gefrorenen Dunkelheit fanden Sie die Frau nicht mehr. Dann wechselten Sie zum linken Fenster, das direkt auf die Stadt blickte.