Die uns beobachten

Der KGB-Hauptmann Igor Koroljuk sah den Lehrer mit zusammengekniffenen Augen an, leicht geblendet von den Sonnenstrahlen, die durchs Fenster kamen, und dachte sich, dass man ihm da wieder mal eine Angelegenheit übertragen hatte, die nicht gut ausgehen würde. Da sitzt also dieser Lehrer vor ihm, der unter anderen Umständen Universitätsprofessor sein könnte, und erzählt irgendwelche Märchen. Obwohl … der Ball …

„Haben Sie diesen Ball?“, unterbrach er den Lehrer.

„Ja, mein Herr.“

„Nennen Sie mich nicht „mein Herr“. Sprechen Sie mich mit „Genosse Ermittler“ an.

„Ja, Genosse Ermittler.“

„Bringen Sie ihn morgen mit. Und was war dann weiter, als Sie dem Alten in das Gebäude gefolgt waren?“

„Ich habe ihn nicht gefunden. Er war verschwunden. Ich habe alle Ecken abgesucht, aber keine Spur.“

„Gab es denn dort keine anderen Türen?“

„Sogar mehrere, aber die waren mit Ziegelsteinen und Platten versperrt. Da wäre er nicht rausgekommen.“

Der Hauptmann zündete sich eine Zigarette an und schaute auf die Uhr. Das Gespräch dauerte nun schon zwei Stunden, und ein Ende war nicht abzusehen.

„Und wie erklären Sie sich das?“, fragte er müde.

„Gar nicht.“

„Weiter.“

„Ich habe die Kinder zusammengerufen, wir haben noch ein bisschen weitergesucht, den Ball  aber nicht gefunden. Als wir ins Stadion rauskamen, stellten wir fest, dass von zwei Jungen die Sportschuhe verschwunden waren und an ihrer Stelle alte, ausgetretene Schuhe standen … Von der Firma Bat’a …“

„Wie, wie sagen Sie? Können Sie das aufschreiben? … So – mit Apostroph?“

„Ja. Das waren Schuhe einer bekannten tschechischen Firma aus der Vorkriegszeit. Ich hatte selbst solche. Nach dem Krieg wurde die Firma verstaatlicht und produzierte Schuhe unter anderem Namen … Ich glaube, Svit … Und der Eigentümer der Firma, Jan Bat’a, der sie nach dem tragischen Tod seines Bruders Tomáš geleitet hat, ist nach Kanada emigriert und hat dort die Firma Bata Shoes gegründet. Ohne Apostroph.“

„Und diese Schuhe haben Sie natürlich?“

„Das waren Fußballschuhe. Ich dachte, man könnte vielleicht in der Schule ein Sportmuseum einrichten …“

Der Hauptmann kniff die Augen noch enger zusammen und sah den Lehrer mit einem derart stechenden Blick an, dass diesem der Mund zuckte.

„Ist das Ihr Ernst? Alles ziemlich merkwürdige Zufälle … Ein Ball, mit dem Sie gespielt haben, Schuhe, die Sie getragen haben … Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Witze hier fehl am Platze sind.“

„Das weiß ich.“

„Oja, sicher wissen Sie das. Obwohl Sie damals auch Witze gemacht haben, als Sie zugegeben haben, dass Sie für den amerikanischen Geheimdienst tätig waren.“

„Wenn man Sie zwingen würde, drei Tage barfuß auf einem kalten Steinfußboden zu stehen, ohne Essen, und Sie sich weder hinlegen noch setzen dürften, würden Sie noch ganz andere Sachen zugeben.“

„Das waren andere Zeiten. Jetzt unterhalten wir uns in einem gemütlichen Büro. Sehen Sie – nicht mal Gitter vor den Fenstern.“

Der Hauptmann stand auf, drückte die Schultern durch und ging im Büro auf und ab, wobei er den Rauch seiner Zigarette einzog. Dann blieb er stehen und fragte:

„Sagen Sie, warum haben Sie die Kinder in die Sache hineingezogen? Warum haben Sie mit diesem Verrückten nicht allein gesprochen? Musste das unbedingt sein, dass das auch die Kinder hören?“

„Ich habe nicht bemerkt, dass sie näher gekommen waren und hinter meinem Rücken standen. Herbeigerufen habe ich sie bestimmt nicht.“

„Haben Sie ihnen wenigstens erklärt, dass das alles Hirngespinste sind? Dass da niemand erschossen wurde?“

„Ja. Ich habe ihnen gesagt, dass sie das niemandem erzählen dürfen.“

„Nein, Sie hätten ihnen erklären müssen, dass das vollkommener Schwachsinn ist!“ Der Hauptmann wurde lauter. „Verstehen Sie? Schwachsinn! Und was haben wir jetzt?“ Der Hauptmann öffnete einen Ordner. „Da. Der Achtklässler Petro Kowaltschuk, der diesen Schwachsinn gehört hat, hat es dem Neuntklässler Orest Korpan erzählt und Orest Korpan wiederum seinem Klassenkameraden Roman Strilziw … Und so weiter und so fort … Verstehen Sie, was das für eine Kettenreaktion ausgelöst hat? Und das ist längst noch nicht alles. Der Achtklässler Bohdan Hryzyk hat seinen Geschichtslehrer nach dem Schicksal der Seminaristen gefragt, die ihr Lehrgebäude auf dem Kortumowa-Berg hatten … Und als der Lehrer antwortete, dass er nichts darüber wisse, erzählte Bohdan Hryzyk von dem Todesspiel. Genau so hat er es genannt – Todesspiel! Und das, wo wir nur von einem Todesspiel wissen – dem in Kiew. Als die Deutschen die Dynamo-Kiew-Spieler erschossen haben.“

„Sie wissen doch, dass das nicht stimmt“, sagte der Lehrer mit leiser Stimme.

„Was stimmt nicht?“

„Na, das mit dem Kiewer Spiel. Es stand doch in der Zeitung, dass nach dem Spiel in Wirklichkeit niemand erschossen wurde.“

„Ich weiß. Das war eine irrtümliche Veröffentlichung. Zumal schon ein Film gedreht wurde, Denkmäler aufgestellt und auf einmal … Das geht doch nicht. Im Leben muss auch Platz sein für Legenden. Aber nicht in Ihrem Fall. Sie haben die Schüler nicht belehrt, dass sie über das Treffen mit diesem Wahnsinnigen nichts herumerzählen dürfen. Und da haben wir’s nun …“

„Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich so dafür interessieren.“

„Wissen Sie, dass Ihre Schüler schon eine Exkursion dorthin organisiert haben? Wissen Sie das? Und andere Schüler aus den höheren Klassen mitgenommen haben? Sie haben uns da sinnlose Arbeit und Scherereien aufgehalst.“ Der Hauptmann klappte den Ordner zu, nahm einen Zettel und unterschrieb. „Das war’s für heute. Ich erwarte Sie morgen um fünfzehn Uhr. Bringen Sie den Ball und die Schuhe mit. Hier, Ihr Passierschein, zeigen Sie den am Ausgang.“