Im Rücken

Auszug (Kapitel 1, 2, 9)

1

Im alles auflösenden Sprühregen verschwimmt der Bogen des weißen Kinderherzes – gezeichnet wie im Freundebuch – und eine Hälfte verschwindet. Vor meinen Augen flimmert es. Ich liebe Tado steht auf dem Asphalt – ich lese TOD. Schnee legt sich auf den alten Gemüsehobel aus Holz, mit dem gestern riesige Mengen Kraut geraspelt wurden, und es ist, als würde ich ein flohwundes Herz aus der Brust nehmen, das beim Schneiden in Scheiben kalt und taub wird. Eine Scheibe für dich, eine für mich, eine getrocknete für unterwegs. Eine für den Sattel zum Drunterlegen, eine für die Briefe zum Dazwischenlegen. Wieso eigentlich Briefe? Heute schreibt ja keiner mehr Briefe. Nur noch knappe sms, drei Teile höchstens, mehr erlaubt der Provider nicht. Meist mit lateinischen Buchstaben, damit es nicht so teuer wird, obwohl es eigentlich gar nicht ums Geld geht. Die Flöhe unserer Gewissensbisse müssen hungern und frieren, sie sind klein und flink. Wie Kühe zur Tränke springen sie zu den Lachen aus frischem Blut, schwellen zu flammroten Gummitröpfchen an und erstarren in wundersamen Gebilden auf den angerichteten Scheiben meines straffen Herzmuskels. Fleisch wie dieses lässt sich schwer kauen, ohne die Beigabe von Pastırma-Gewürz schmeckt es nicht.

Ich zerteile den Regenschleier. Atme wie ein Fisch. Schleppe eine schwere Tasche. Stapfe durch matschigen Schnee. Schnappe nach Luft. Und trete wie ein Kind in kurzen winzigen Trippelschritten die zweite Herzhälfte in den angetauten Schlamm.

Die allgemeine Lage nervt wie ein dämlicher Typ, der im Winter mit Sommerreifen, betrunken und ohne Führerschein durch die Gegend rast. Du kannst ihm mit der Faust drohen und hupen. Kannst ein Video aufnehmen, wie er bei Rot über die Ampel brettert, und ins Netz stellen. Das ändert nichts an deiner Ohmmacht, denn weder der x-mal geteilte Post noch die zeternden Kommentare in der Facebook-Gruppe VARTA 1 noch das Taggen der neuen Polizeibeamten haben irgendwelche Folgen.

Ich schleppe Gläser mit Sauerkraut und gefrorene Warennyky. Trockenfrüchte und Gemüse. Socken und Unterwäsche. Ich habe einen Master in der Tasche und einen guten Job. Ich könnte das Auto nehmen und viel größere Mengen transportieren. Schnell und effektiv. Könnte außerdem auf dem Weg bei den Müttern mit kleinen Kindern noch was einsammeln. Sie machen ja den lieben langen Tag nichts weiter als ehrenamtlich kneten, trocknen, kochen und spenden. Das macht ihnen Spaß. Sie sitzen in ihrer zweiten Elternzeit, die sich nahtlos an die erste angeschlossen hat, und brauchen Beschäftigung, als säßen sie im Gefängnis.

Stattdessen schleppe ich diese Tasche zu Fuß durch die Gegend – als Buße und Strafe. Gestern bist du gefahren. Vorher wollten wir es uns noch mal schön machen. Wir haben was getrunken und hatten Sex. Eigentlich sollte es leidenschaftlich sein. Denn du gehst für lange weg, und wer weiß, ob du überhaupt wieder kommst. Aber irgendwie konnten wir uns kaum aufraffen, als ob es eine Pflicht wäre, mit der Homewear hatten wir unsere liebe Mühe, und ich wollte einfach nur, dass du endlich aufhörst, in altbewährter Manier meine Brustwarzen zu bearbeiten. Ich musste weinen. Du hast dich rhythmisch bewegt und schwer geatmet. Es sah so aus, als müsstest du dich zusammenreißen und an etwas anderes denken, um zu kommen. Du hast die Stirn gerunzelt, dich an meine Schläfe geschmiegt, den Mund geöffnet und kehlig gegrunzt. Ich mache das auch so, wenn ich nicht so richtig erregt bin. Aber diesmal war ich sogar dazu zu faul. Ich hing in einer Leere fest und habe sie ausgefüllt, dumpf, zäh und trostlos. Ich bin gefallen und habe mich selbst aufgefangen. Habe nichts gefühlt. Deine Stimme schien weit weg, als wäre mein Ohr verstopft. Mit meinen verheulten Augen habe ich auf deinen gepackten Rucksack gestarrt. Dich hysterisch umarmt. Dir in die Schulter gebissen, als wollte ich dich mit meinen Zähnen fragen, ob du mich attraktiv findest, ob es dich reizt, mir über den Hintern zu streichen, ob meine Schlüsselbeine auch nicht zu sehr hervorstehen, meine Knie auch nicht zu spitz sind. Vielleicht sollte ich mir auch im Winter die Fußnägel lackieren? Findest du es schöner, wenn ich meine Beine breit mache oder wenn ich sie anhebe und kreuze? Reicht meine Krümmung im Rücken, wenn du hinter mir bist, oder sehe ich aus wie ein quadratischer Klotz? Aber du hast diese Fragen gar nicht gehört, du hast nur an die Decke gestarrt und mir mit der rechten Hand über den Kopf gestrichen, die linke hast du dir auf die Brust gelegt, als wolltest du deinen Herzschlag fühlen. Wie ein Arzt. Als wolltest du prüfen, ob da in deiner Brust alles an Ort und Stelle ist, ob alles passt – die Entscheidung zu den Gefühlen, die Wahl zu den Wünschen. Meine Tränen hast du nicht bemerkt. Also bin ich aufgesprungen und duschen gegangen. Erst unter dem prickelnden heißen Wasser habe ich meinen Körper wieder gespürt. Damals. Also gestern.

Um fünf Uhr in der Früh habe ich dich zum Bahnhof gebracht. Vorbei an den Hügeln aus Sand und Pflastersteinen, die während der Gleisreparatur aufgehäuft worden waren. „Zugang zur Kirche. Kein Zugang zur Kreativwerkstatt“. Das Schild verwies auf das vorübergehende Fehlen einer Alternative, die Reparaturarbeiten konnten sich aufgrund der Witterungsbedingungen endlos in die Länge ziehen. Im Gegensatz zur leeren Stadt war der Bahnhofsvorplatz außerordentlich belebt. In der Erwartung, gleich antreten zu müssen, drängten sich die Rekruten aneinander wie Vogeljunge im eisigen Regen. Du hieltest dich abseits der chaotischen, angedeuteten Linie, und kaum war ich weg, stöpseltest du deine weißen drahtlosen Kopfhörer ein. Die werden dir die robusten Jungs vom Dorf gleich abnehmen, dachte ich mir, um diese Stunde versorgen sie normalerweise das Vieh, sie sind also ganz und gar nicht blass und verschüchtert. Sie rauchen und spucken. Ihre roten Münder blasen in die kalten Hände. Als sie deine helle Jacke, die Columbia-Stiefel und den nagelneuen Rucksack gesehen haben, dachten sie wahrscheinlich, du wärst einer, den Mama und Papa nicht hatten freikaufen können, vielleicht weil du dich mit ihnen verzankt hattest oder man im Wehrkreiskommando eine unerschwingliche Summe verlangt hatte. In diesen frühen Morgenstunden ging ich fort von dir, jedes Fenster barg ein eigenes schwarzes Loch, sammelte Extrakte aus der Tiefe der menschlichen Seele. Es schien mir, als hätte ich am Hinterkopf ein zweites Paar Augen, die in einen hallenden Straßentunnel schauen wie über den Rückspiegel in ein Fernglas. In dieser spiegelverkehrten, perspektivlosen Perspektive entfernt sich deine Silhouette, aber ein megastarkes Glas in meinem Kopf stellt sich scharf auf deine glänzenden, fast polierten Nägel ohne das kleinste Häutchen, auf das gestutzte Schläfenhaar unter den längeren Strähnen, auf vom Rasierer gereizten Stellen am Kinn, auf die Bartstoppeln, die scheinbar mobil werden und sich unter der Haut bewegen, kaum dass du dich rasiert hast. Wie in einem Computerspiel durchleuchte ich dich, du drehst dich in meinem Kopf wie ein 3D-Modell, ich knete deine dezent gepolsterten Seiten und streiche über deinen Bauchnabel – diese Stellen sind zart, weich und mir besonders vertraut, ich möchte meine Wange daran lehnen und mit den Fingern über die Nervenenden zwischen dem Ohr und der Mulde am Hinterkopf fahren. Aber ich mache einen Fehler, die App verlangt ein Upgrade, das mein Betriebssystem nicht zulässt. An der nächsten Ampel ist der Arbeitsspeicher überlastet und hängt sich auf, der Akku stürzt ab und geht aus.

31. Oktober. Der erste Schnee ist zeitig und heftig. Das gibt es manchmal. Durchmischt von Regen, peitscht er gegen die Wangen, die Kälte ist so durchdringend, dass nichts mich erwärmen kann. Meine Kleidung ist plump, eng und sackförmig zugleich. Ich fühle mich nicht nur ganz und gar unattraktiv, sondern hoffnungslos grau, alt und schwer. Als wäre ich binnen eines Tages um Jahre gealtert und hätte mehrere Kilos zugelegt. Die Augen sind tief in die Höhlen gesunken. Die Brüste hängen schlaff herunter. Bauch und Hintern wabbeln. Die Haut ist bläulich und von kleinen Äderchen durchzogen. Als hätte ich seit gestern mindestens drei Kinder ausgetragen, zur Welt gebracht und gestillt.

Ich öffne den Mund, will schreien, doch nichts als ein Wattebausch stummer Leere quillt hervor. Der löst sich inmitten der Schneeflocken dampfend auf und fällt als zersprungene Christbaumkugel zu Boden. Ich will nur noch nach Hause und unter meine Bettdecke kriechen. Sie über den Kopf ziehen und bis zum Frühling nicht wieder hervorkommen. Eigentlich spricht auch nichts dagegen, aber zuerst muss ich diese Tasche loswerden. Meine Finger laufen blau an. Mir ist schwindlig. Ich merke, dass ich seit unserem Abendessen gestern nichts mehr zu mir genommen habe. Ich hole eine Tüte mit selbstgebackenen, unförmigen Plätzchen und einer Postkarte in Kinderschrift heraus. Marusja – vielleicht war sie eines von den Kindern, die mich in der Pause im Flur der alten Schule umgerannt haben – dankt den Soldaten für ihre Tapferkeit und befiehlt sie Gottes Schutz an. Ich hatte noch darauf geachtet, dass die Kleidung vollständig mit einem Tarnnetz überzogen war, dunkel wie die Flügel eines schwächlichen Engels, der keine Lust mehr hat, sich in den Himmel zu erheben. Und eine ältere Schülerin bekam Ammoniumchlorid, weil sie eine sms erhalten hatte, dass ihr Vater auf den Schießplatz müsse. Ich löse die gelb-blaue Schleife und stecke mir ein Plätzchen in den Mund. Um es wirklich zu zerkauen, brauche ich Kraft. Ich habe einen Kloß im Hals. Schlucke krampfhaft, und die Krümel kratzen in der Speiseröhre. Ich habe kein Hungergefühl, also gibt es auch nichts zu bezwingen. Es gibt überhaupt nichts zu bezwingen. Außer den endlosen Tagen, die ich irgendwie allein rumbringen muss. Als die Tüte leer ist, legt sich auch der Schwindel. Jetzt fühlt es sich so an wie nach einem dumpfen Schlag auf den Hinterkopf. Hinter mir geht die Tür auf, die Verkäuferin will einen Eimer Wischwasser auskippen. Bei diesem Wetter ist der Boden ständig schmutzig. Sie sieht mich im letzten Moment, kann aber den Eimer nicht mehr zurückhalten. Ich rette mich knapp, die Brühe schwappt in die gepackte Tasche. Schlammbröckchen, Sand, feuchte Pappfetzen, braunes Wasser – alles ergießt sich über die Gläser mit dem Kraut, läuft in die Tüten mit den selbstgebackenen Plätzchen und gefrorenen Warenyky, verwischt den Filzstift und die Glitzerschrift auf den Grußkarten. Die Verkäuferin seufzt, greift sich ans Herz, entschuldigt sich hastig, reißt mir die Tasche aus der Hand und macht sich dran, zu retten, was zu retten ist. Sie tupft die Postkarten der Kinder trocken, ihre Finger sind rau und wulstig, in den Rissen ist die Haut dunkler, aber die Nägel sind dunkelrot lackiert und bemalt, das Design ist in anderthalb Wochen zwar schon etwas herausgewachsen, sieht aber noch ganz passabel aus. Ich hebe die Augen und sehe, dass sie weint. Ihr Weinen ist ansteckend, ich schluchze mit und verschlucke mich so schlimm, dass ich kaum noch atmen kann, falle an ihre weiche, warme Brust. Sie gehört zu den Frauen, die nie frieren, die welke Haut ihres Dekolletés riecht nach frischem Schweiß und billigem Parfüm, ihre Hände nach Wurst und Chlor. Sie nimmt mich in den Arm wie ein Kind, ich heule und kann gar nicht mehr aufhören. Die Tränen wollen nicht versiegen. Irgendwann weicht die Spannung aus der Feder und ist gelöst. Der Hahn geht zu. Ich seufze. Sie streicht mir über den Kopf und entspannt sich auch, die Umarmung lässt nach. Ihre dick aufgetragene Schminke ist verlaufen und verschmiert – der goldschimmernde Lidschatten und der dicke schwarze Eyeliner, die Mascara, die die künstlich verlängerten Wimpern streckt und verstärkt, und der dunkle Perlmutt-Lippenstift passen perfekt zu dem Goldzahn neben dem rechten oberen Eckzahn. Ich glaube, ich habe noch nie so braune Wangenknochen gesehen, als ob sie auf Bali gewesen ist. Sie gehört zu dem Typ Frauen, die einem Angst einflößen und mit denen man sich nicht freiwillig einlässt. Sie knallen einem die verlangte Ware wortlos und lässig auf den Ladentisch, als schmissen sie einem Hund einen Knochen hin, und mit dem Restgeld nehmen sie es nicht so genau. Aber sie wischt sich das Gesicht ab wie ein kleines Mädchen, bittet mich zu warten, springt auf, rennt schlurfend los mit ihren Plastiklatschen, die sie über Strumpfhosen und Socken gezogen hat, und ist eine Minute später wieder da mit einer Hugo-Boss-Tüte, die sie bis oben hin mit Schmalzfleisch, Kondensmilch, Pralinen, Tee, Kaffee und Zigaretten vollgepackt hat.

„Nimmst du das mit?“, fragt sie knapp und dreht sich weg, sie sieht nicht mal mehr, wie ich nicke.

Sie geht zurück in den Laden und blafft eine alte Frau an, die in der Feinkostabteilung eifrig ihren Fingernagel in die Warenyky bohrt, um zu prüfen, ob der Teig für ihre Zähne weich genug ist. Sie keifen sich an, und am Ende nimmt die Alte einen Krautwickel, drei Warenyky und zwei saure Gurken. Sie ist anstrengend und kapriziös, hasst kochen, denn für sie allein lohnt es sich nicht, und weiter hat sie niemanden. Die Verkäuferin ist bissig und genervt, auch sie hasst kochen, trotzdem formt und rollt sie in ihrer Freizeit für ihren Mann und ihre zwei erwachsenen Söhne hunderte Warenyky und Krautwickel. Von ihrem plötzlichen Anfall von Menschlichkeit ist nichts mehr geblieben. Die Frauen überbieten sich gegenseitig im alltäglichen Hass und gehen – gestärkt vom Gift der anderen – mit einem Gefühl der Erleichterung auseinander.

Jetzt habe ich noch mehr zu schleppen. Und bin irgendwie besänftigt-gleichgültig-kraftlos. Ich stelle die Taschen am nächsten Müllplatz ab und gehe weiter, im Weggehen höre ich, wie sie von jenen geplündert werden, die eben noch in den Tonnen gewühlt haben.

Am Müllcontainer sitzt ein Obdachloser in einem schwarzen Kunstpelz, so eine Art Hausmantel. Vor ihm steht zwar ein Becher zum Betteln, aber das ist wohl nur zum Schein. Er hält eine kleine Kupfervase in der Hand. Mit seinen langen schmutzigen Nägeln kratzt er die Vertiefungen des Reliefs frei. Flüstert Flüche in seinen tabakgelben Schnurrbart: auf den Schnee, auf die Glätte, auf die Depression. Die Flüche steigen in die Luft, der beißende Geist der Schmutzstarre gibt ihnen Auftrieb. Mit seiner Wunderlampe oder Büchse der Pandora geht alles umgehend in Erfüllung. Ein alter schwarzer Lada mit einer Jaguar-Figur auf der Kühlerhaube kommt um die Ecke geschossen, und das Wasser aus der Pfütze bespritzt den Penner, als wäre das die einzige Dusche, auf die er in seinem erbärmlichen Leben noch hoffen kann.

Scharen von Zombies, Hexen und Leichen kommen mir entgegen. Einem steckt eine Axt im Kopf. Die Partygänger lachen ausgelassen und stoßen sich an. Einer springt auf mich zu und will mich erschrecken. Das reißt mich aus meinen Gedanken, und ich schaue mich um. Die Kneipe gegenüber ist mit Spinnennetzen behangen, die Kellnerinnen sind als erotische Skelette geschminkt. Vor dem Eingang hat sich eine Truppe in Ku-Klux-Klan-Kostümen zum Foto aufgestellt, sie bitten mich, eine Aufnahme von ihnen zu machen, strecken den rechten Arm vor und rufen „Ehre der Nation!“. „Tod den Feinden“, flüstere ich gepresst zurück. Soll noch einer sagen, Halloween hätte bei uns keine Tradition.

Drinnen ist es stickig und laut, ich bin die einzige, die nicht geschminkt ist, aber mein blasses Gesicht, die Schatten unter den Augen und das wirre Haar passen ziemlich gut ins Konzept, es fehlt eigentlich höchstens ein dünnes Rinnsal Blut aus der Nase. Ich trinke einen doppelten Whisky auf ex und bestelle den nächsten. Neben mir diskutieren zwei der Ku-Kux-Klan-Leute den Preis für ein Attest, damit man nicht an die Front muss. ‚Verdammt! Das ist ja machbar! Das ist voll einfach! Das ist doch nur die Hälfte von meinem Monatsgehalt!‘, denke ich und merke, wie mir übel wird. Halb abwesend taumle ich einen langen Korridor mit einem Ölsockel entlang. Vor dem Büro, in das ich muss, steht eine Schlange, dann geht die Tür auf, und eine dicke Männerhand winkt mich herein. Sie schwebt elegant in der Luft, weist mir generös einen Stuhl zu, legt sich auf mein Knie und kriecht wie eine Tarantel aufwärts. Ich habe Angst, mich zu rühren wie bei einem giftigen Rieseninsekt. Als die Finger den Slip erreichen und die Mulde zwischen den Schamlippen reiben, schreie ich und trete um mich. Die Hand kommt unter meinem Rock hervor, hebt den Zeigefinger und legt ihn mir auf die Lippen, ich erkenne meinen Geruch, dann öffnet sich die Hand und tanzt erwartungsvoll vor meinen Augen. Panisch versuche ich, meine Handtasche zu öffnen, das Schloss klemmt, ich suche den Umschlag, den ich vorausschauend vorbereitet habe. Ich hatte ihn doch. Er muss da sein. Ist er aber nicht. Die Hand wird unruhig und zeigt zuerst auf die Uhr und dann auf die Tür.

„Alles in Ordnung?“, fragt mich der uniformierte junge Mann in einem Winkel des Korridors. Langsam sehe ich wieder klarer. Im Hintergrund spielt Joe Dassin. Wieso denn verdammt noch mal Joe Dassin, von seinem süßlichen „Le jardin du Luxembourg“ wird mir immer schlecht, ziemlich unpassender Song fürs Wehrkreiskommando.

Eine Kellnerin im Gespensterkostüm reicht mir ein Glas Wasser. Den jungen Typen, der mir mit beiden Händen die Wangen reibt, bitte ich um eine Zigarette. Ich zünde sie an, muss husten, fröstle. Beiße mir auf die rissigen Lippen, nage die Haut ab, bis ich das süßliche Blut schmecke. Damit komplettiere ich mein Outfit für die Party, ein Tag, der nie vergeht, Party nonstop, heute mit glotzenden Kürbissen und morgen mit anderen Requisiten, je nachdem, was das Marketingkonzept vorsieht. Ich schluchze zweimal auf und drücke auf den Nasenrücken, um die Tränen aufzuhalten. Ich bestelle noch einen doppelten Whisky, halte mir die Handknöchel an die Nase und spüle mit kalter feuchter Luft nach. Ich stehe auf, klopfe das feuchte Hinterteil meiner Jacke ab und mache mich langsam auf den Heimweg. In einer Kirche wird Abendmahl gefeiert. Allerlei Geister ziehen unbekümmert vorbei. Eine Frau schleppt eine karierte Tasche, so eine, wie ich sie am Müllcontainer abgestellt habe, tritt ans Kreuz, lehnt ihre Stirn dagegen, bekreuzigt sich, küsst das Kreuz, flüstert etwas. Als sei das Kreuz ihr Geliebter. Nur dass er keine Anstalten macht, ihr mit der Tasche zu helfen. Würde ich mich doch nur nach einem Kirchgang ebenso erleichtert fühlen wie sie, ihre Tasche scheint ja federleicht geworden zu sein. Sie trägt sie jetzt so unbeschwert, als würde eine Schar Engel – begleitet von himmlischem Gesang – ihr von beiden Seiten unter die Arme greifen. Ich fühle mich in sakralen Gebäuden immer unbehaglich, genauer gesagt befallen mich da immer schmutzige Gedanken, ich sehe mich in einem Porno, in dem Mädchen vor den Altären Kussmund-Selfies machen. Womöglich sind das die Folgen meines traumatisierenden Besuchs im Potschajiw-Kloster, keine Ahnung, vielleicht. Ich erinnere mich vage an einen dämmrigen, düsteren Raum mit einem schweren Duft und manischen Frauen, die ungeachtet ihres biologischen Alters nicht einfach alt, sondern aus der Zeit gefallen wirkten. Seitdem fühle ich mich in allen Kirchen, besonders während des Gottesdiensts, irgendwie unwohl. Als wäre ich in einer Disko mit Musik, die mich nicht anmacht. Wenn ich dann nicht einfach aufstehen und rausgehen kann, warte ich nur darauf, dass diese Mischung aus Unwohlsein und Langeweile, das Gefühl, völlig fehl am Platze zu sein, endlich aufhört. Als würden die Besucher öffentlich auf die Knie fallen, um die anderen an ihr sündiges Wesen zu erinnern und einen Wettbewerb um die tiefste Buße abzuhalten. Denn wer von ihnen kennt nicht dieses eigenartige, krankhafte Zittern, das einen dazu treibt, ständig auf die Ergebnisse des eigenen Seufzens und Bekennens zu schauen, von den täglichen Fehltritten ganz zu schweigen. Nach dem einzigen Mal, wo du mich sozusagen als Begleitung zum Abendmahl mitgeschleppt hast, ging’s mir eine ganze Woche lang beschissen. Die Gläubigen würden vielleicht sagen, die Dämonen seien aus mir ausgefahren.

Ich blicke auf das kleine Flugzeug oben, rechts vom Kreuz. Vielleicht ist das ein Blitzableiter. Sieht aber sehr nach einem Flugzeug aus. „Nimm mich mit auf die Reise, kleines Flugzeug!“, rufe ich ihm ein improvisiertes Gebet zu, es ist mein allzu menschlicher Wunsch, den Stein von meinem Herzen auf die Flügel der höheren Mächte abzuwälzen. Wie ich in diese Ecke des Kirchhofs gekommen bin, kann ich nicht mehr sagen.

 

2

Wie spät ist es eigentlich? Shit! Wo bin ich überhaupt? Mein Versuch, die Augen zu öffnen, kommt einer atomaren Explosion zwischen Netzhaut und Gehirn gleich. Was klingelt denn da, verdammt noch mal? Wo muss ich hin? Der Wecker sprengt den Raum und bohrt sich in meinem Kopf. Ich liege weiter auf der Seite und öffne wie ein Huhn erst mal ein Auge, dabei stelle ich fest, dass ich zu Hause bin, obwohl ich das schon beim Tasten nach meiner Decke gemerkt habe. Ich liege quer im Bett. Und habe einen furchtbar pelzigen Geschmack im Mund. Das Display von meinem Handy verschwimmt und dreht sich. Das widerliche Ding dudelt immer weiter und hört nicht auf. Endlich gelingt mir ein fokussierter Blick: 7:30 Uhr. Als ich den Kopf heben will, kommt es mir hoch. Meine Haare stinken verdächtig. Weil sie gestern keiner gehalten hat – denn du, mein geübter Gehilfe aus Studententagen, wenn der billige Imbiss zum Batikmuster im Schnee wurde, warst ja nicht da. Irgendwann quäle ich mich hoch und gehe zur Toilette, wobei ich über die Kleidungsstücke steige, die den Weg zur Tür markieren. Es fühlt sich so an, als würden mit dem Toilettengang auch der ganze nicht abgebaute Alkohol und meine seelischen Qualen aus dem Körper gespült. Mir ist so übel, dass mir alles egal ist. Ich schlurfe in die Küche, schiebe mir zwei Esslöffel Enterosgel in den Mund und spüle das klebrige Zeug mit Wasser in die Speiseröhre. Mache mir einen Tee. Die Übelkeit lässt nach. Ich gehe in den Dienstchat und schreibe, dass ich mir einen Krankenschein hole. Ich krieche zurück ins Bett, aber schlafen kann ich nicht mehr, mein Herz hämmert und trommelt, abwechselnd rast und stockt es. Ich schließe die Augen und sehe bunte psychedelische Kreise. Heute gehe ich nicht zur Arbeit. Und morgen auch nicht. Vielleicht überhaupt nie mehr. Ich habe genug gespart, ich könnte den Winter in Asien verbringen. Ich bin noch nie im Ausland gewesen, weil dir das zu teuer war und du dich nicht von mir aushalten lassen wolltest. Die nächsten paar Jahre verbringe ich im Bett, also brauche ich eigentlich gar kein Geld. Die Schläfen pochen, es fühlt sich an, als würden dünne Rinnsale von Blut aus Wundmalen im Gesicht laufen und sich als Geäst auf meine Wangen legen. Ich sehe endlose Strände, Sand und das glatte türkisblaue Meer. Schöne Menschen, perfekt gebräunt. Sie lächeln nicht einmal, so erfüllt sind sie von Freude. Sie müssen das Glück, das ihre Brust schwellen lässt, nicht laut herausposaunen. Singles und Familien, Ältere und frisch Verliebte, Kinder und Vierbeiner. Alle planschen im Wasser und liegen in der Sonne, essen Eis und trinken Fanta. Ich gehe auf in der salzigen Luft, die in den Augen beißt, tauche ab in einen flachen neurotischen Schlummer. Ein Anruf reißt mich raus:

„Wie geht’s dir denn?“ Die sirrende Stimme am anderen Ende strotzt vor Energie.

„Geht so“, entgegnet meine Stimme heiser flüsternd.

„Also jetzt mach dich mal locker, der kommt doch bald wieder, die kriegen ja auch Urlaub.“

„Sie kommen eben nicht wieder.“

„Also, jetzt mach mal ´n Punkt.“

„Wenn sie wiederkommen, sind sie nicht mehr wie früher. Also, Sofia, ich habe einen krassen Kater …“

„Also gut, dann ruhst du dich heute bisschen aus, und morgen bist wieder hier auf der Arbeit.“

„Okay. Bleib sauber, tschüs.“

 

Ich lege auf und gehe auf Facebook. Klicke mich durch die Seiten und setze Likes. Als ob bei den anderen alles beim Alten wäre. Eigentlich hab ich’s hier ja auch ganz gut, ich kann mich hier auf dem ganzen Bett breitmachen und so lange schlafen, wie ich will. Ich habe die Decke ganz für mich allein. Wo du dir ja nun ein Metallbett in der Rekrutenschule oder ­– schlimmer noch – eine Pritsche im Bunker gesucht hast. Wenn dir das wichtiger ist. Ich strecke mich sternförmig auf dem Bett aus und bin froh, dass kein anderer da ist. Meine Achseln verströmen diesen scharfen Schweißgeruch. Der kommt vom Kater. Wie auch der gelassene Geist und die körperliche Erregung. Denken ist viel zu schmerzhaft, also halten wir uns an das Animalische, Primitive, Kreatürliche. Wir gehen auf den Tod zu, deswegen wollen wir als Nachspeise einen Leckerbissen. Ich google eine Pornoseite. Female choice. Zwei junge Frauen lecken sich, ein Mann gesellt sich dazu. Ich massiere meine Brustwarzen, fahre mit der Hand unter die Decke und schiebe die Finger zwischen die Schamlippen. Ich verfolge die Zuckungen des Männchens auf dem Bildschirm, und meine Bewegungen werden rhythmisch, ich sehe, wie die Frauenzunge das weiche rosa Fleisch berührt. Ihrem Mund entfährt ein Stöhnen. Meinem Mund entfährt ein Stöhnen. Mit dem rhythmischen Stoßen zwischen den Beinen wird meine Hand eingesaugt, endlich verspüre ich Erleichterung, endlich hat sich der Druck des gescheiterten Orgasmus, der seit vorgestern Abend irgendwo da im Hinterkopf hing, entladen und in Luft aufgelöst. Er legt sich von außen über mich und ergießt sich aus meinem Inneren. Leicht und ungezwungen, schnell und unbändig wie damals in der Schule. Das Blut pulsiert in den feinsten Kapillaren und scheidet durch die Poren die giftigen Stoffe aus. Die primitive körperliche Freude steigt in die Gehirnwindungen wie Quecksilber.

Auf einmal kriege ich sogar Hunger. Ich öffne den Kühlschrank und lasse meinen Blick schweifen, sehe, dass von den kulinarischen Köstlichkeiten, die ich für den Abschiedsabend zubereitet hatte, noch einiges übrig ist. Aber ich nehme das Glas mit dem eingelegten Ingwer und mache mich mit den bloßen Fingern darüber her.

Das Telefon klingelt. Zum Glück jetzt und nicht vor sieben Minuten. Deine Mutter. Die Frau, für die ich immer so ein Gemisch aus Angst und Ablehnung empfunden und sie deswegen immer Abstand gehalten habe, kommt mir jetzt irgendwie vertraut vor, als würde sie mir fürsorglich eine Bouillon gegen den Kater verabreichen. Ihre Stimme ist aufgebracht und energisch zugleich, als hätte ihr Leben einen neuen Sinn bekommen, der von den schwierigen Umständen vertieft wird.

„Also hör mal zu. Ich hab’s rausgefunden. Sie sind in einer Rekrutenschule bei Kiew einquartiert worden. Die Bedingungen sind in Ordnung. Wie geht’s dir?“

„Ganz gut. Hat er dich angerufen?“

„Ich hab’s nicht ausgehalten. Eijeijei. Aber er hatte nur ganz wenig Zeit. Wir konnten gar nicht richtig sprechen. Nur so: ‚Das wär’s dann, Mama, tschüs.‘ Hör auf zu grübeln, mein Mäuschen. Unsere Gebete bringen ihn mit Sicherheit zurück. Wenn wir fest dran glauben …“

„Mhm.“

„Eijejej, Kinder, Kinder, warum mutet Gott euch das zu? Dann muss es wohl so sein!“

Ich heule gleich los, also lege ich lieber auf. Immerhin ist sie deine Mutter, also hat sie das unwidersprochene Recht, dich mit einem Anruf zu behelligen, selbst wenn dir die Kugeln um die Ohren pfeifen. Damit du sie beruhigen, dich für die Mühe, die sie mit dir als Kind hatte, erkenntlich zeigen kannst. Ich habe dir ja nichts gegeben, nichts für dich geopfert. Was bist du mir denn schuldig? Das Fondue-Set, das ich für die gemütlichen Abende mit Freunden gekauft habe? Oder den Joystick für deine Lieblingsspiele, den ich dir von meinem ersten richtigen Gehalt zum Nikolaus geschenkt habe? Um nicht ganz zu versumpfen und auf andere Gedanken zu kommen, gehe ich auf den Balkon. Splitternackt, nur eine Jacke habe ich mir übergeworfen. Ich stecke mir eine Zigarette an und winke dem Nachbarn von gegenüber. Die Kälte wippt und sitzt in den Stümpfen der abgeknickten Zweige. Ein junger Mann mit Kopfhörern fährt im Rollstuhl über den Fußweg. Er ist oft im Viertel unterwegs, vielleicht wohnt er hier irgendwo. Sein amputiertes Bein passt zu den gestutzten Bäumen. Er hält oft an, stützt sich auf das unversehrte Knie und dreht seinen Kopf mit der Musik im Ohr nach den Baumkronen – als hüteten sie ein Geheimnis. Ich gehe rein und google die Rekrutenschulen im Gebiet Kiew. Ich werde auf die Seite der Militäreinheit A 0704 Wassilkow (Rekrutenausbildungsstätte) auf v kontakte geleitet. Das Profilbild zeigt fidele Rambos in Uniform in der Kaserne, der erste Post ist von einem Girlie, auf dem Bild sieht sie aus wie höchstens fünfzehn, so ein minderjähriges Provinzgör, das den Kopf neigt und ein handgemaltes, mit Blumen und Herzchen verziertes Plakat in Heftgröße in die Kamera hält, auf dem steht: Wadim, Polina liebt dich und wartet auf dich. Es folgen Posts in grottenschlechtem Russisch: Mädchen suchen ihren Boyfriend, Soldaten schreiben über die Bedingungen vor Ort und tun kund, dass sie die Zeit in der Gemeinschaft genießen, wenn auch der Komfort zu wünschen übrig lässt. Als ich die Frage: „Wer weis, ob T, Katja noch in der Kantiene arbeitet?“ lese, muss ich lachen. Das geschieht dir recht, dass du dein Essen jetzt von T – Komma – Katja kriegst. Doch bei dem Post: „Beste Grüße aus der Rekrutenschule an meine ATO!“, in dem ein User namens Chochlow neben seinem Gewehr mit einem blau-gelbem Aufkleber aus Patronenhülsen die Nummer 0704 gelegt hat, wird mir wieder schlecht. Der Porno auf dem Browser war bedeutend besser.

Ich klicke auf deinen News Feed. Der Eintrag zum Ort hat schon 438 Likes und 142 Kommentare, die Leute wünschen dir, dass du von Engeln behütet wirst, und fragen, ob ihr etwas braucht. Ob ihr auch nicht friert. Ob ihr genügend Zigaretten habt. Genervt klappe ich den Laptop zu. Die Engel haben zu tun – sie müssen den abgearbeiteten Frauen die schweren Taschen schleppen! Ich komme auf deiner Seite gar nicht vor. Auf dem letzten Foto allerdings drückst du mich fest an dich, als wir uns auf dem Bahnhof verabschieden. Das hast du jetzt sogar als Profilbild. Es hat rekordverdächtige 694 Reaktionen (Likes, weinende Smileys und Herzen). Was wisst ihr denn schon, ihr 694 Nutzer? Ein Drittel gehört nicht zu meinen Freunden, und 79 Prozent von euch haben das Bild nur gesehen, weil es so oft gelikt und deswegen von den Facebook-Algorithmen auf die Startseite katapultiert wurde. Wenn mich dieser Typ auf dem Bild wirklich lieben würde, wäre er bei mir geblieben und hätte mit mir zusammen die Welt unsicher gemacht. Unsere Winterfotos aus Thailand hätten bestimmt genauso viele Likes gekriegt. Wenn doch wenigstens jemand ein wütendes oder laut lachendes Gesicht gepostet hätte. Aber nein, ihr schreibt alle nur über die Liebe und wie stark und toll wir sind. Liebe, na, toll … zufälliges Zusammentreffen. Du verliebst dich in den, der dir zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort über den Weg läuft. Und dann kommt da so ein junges patriotisches Ding, eine zivilgesellschaftliche Aktivistin, die alles ehrenamtlich macht, bringt Zigaretten vorbei und wickelt dich mit ihrem ganzen Engagement um den Finger, weil sie all das hat, was mir fehlt. Und dann schreiben die Lokalzeitungen zum Valentinstag lauter langweilige romantische Artikel über euch Zwei. An wem hat’s denn gelegen, wirst du dann sagen, du hast dich nie so engagiert, du hast noch nicht mal eine Sammelaktion für uns organisiert, damit wir mit Allernötigsten versorgt sind.

Ich esse noch ein bisschen Ingwer und knabbere Schokolade.

Du hast deinen Spaß da in der Kaserne, fuck. Echte Kerle. Testosteron. Kick. Junge Frauen und Kinder schreiben euch, wie wichtig ihr seid.

Ich steigere mich immer weiter rein in Wut und Selbstmitleid, und obwohl ich das merke, kriege ich mich nicht ein. Schuld sind der Kater und der Hunger, ich weiß schon, aber was Richtiges zu essen, kann ich mich auch nicht aufraffen. Gedankenlos scrolle ich durch die Posts. Die netten, positiven Beiträge mit dem Hashtag #Verrat finde ich ätzend, aber die glühenden patriotischen finde ich noch ätzender. Am liebsten würde ich ein paar gehässige Kommentare dazu ablassen, aber selbst dazu fehlt mir die Kraft, und ich spare mir das ermüdende Gelaber. Ich unterdrücke den Wunsch, etwas kaputt zu machen, zu zerstören, zu verwüsten. Aber eigentlich bin ich ganz ungefährlich. Ich kann höchstens die Fäuste ballen. Zu mehr bin ich in diesem Zustand nicht fähig. Die Abende werden jetzt lang und schwarz wie ein Loch. Kaum wird es dunkel – obwohl es ja eigentlich den ganzen Tag gar nicht richtig hell war –, also irgendwann nach vier, ergießt sich Schmutzwasser in meinen Brustkorb. Es fühlt sich so an, als sei eine Herzklappe gerissen, hinter der der Abwasserkanal liegt. Die Gülle unserer Gefühle. Ich schalte eine Serie ein, aber die schnellen Bilder und der hypnotisierende Ton sind total einschläfernd, gegen sechs rapple ich mich auf und nehme mir vor, was zu essen, aber dann verschiebe ich doch auf morgen.

Gegen eins wache ich auf, weil ich Durst habe und pinkeln muss. Im Kühlschrank steht noch ein Glas mit eingelegten Tomaten von deiner Oma, ich schlürfe die Brühe. Dann gehe ich aufs Klo. Zurück in der Küche, trinke zwei Glas Wasser und nehme zwei Aspirin und sechs Kieselsäuretabletten. Vielleicht hebt sich die Wirkung der Medikamente ja auch auf, wenn ich sie gleichzeitig einnehme. Ich schaue noch einmal nach der Uhrzeit und sehe, dass ich drei verpasste Anrufe und eine lange sms von dir habe, die sich mit „bin angekommen, habe mich eingerichtet, liebe dich, vermisse dich“ zusammenfassen lässt. Ich freue mich plötzlich, drücke auf reply, der Cursor blinkt in der leeren Zeile, und ich weiß nicht, womit ich beginnen soll. Und was ich dann weiter schreiben soll. Und was ich zum Schluss. Wenigstens kurz. Ganz kurz. Wenigstens drei Wörter. Aber mir fällt nichts ein. Ich krieg nichts zusammen. Vielleicht: „Warum, verdammte Scheiße?“ Freude und Wut mischen sich in meinem Körper wie zwei explosive Stoffe. Es fühlt sich so an, als ob mir blutiger Schaum in den Mund steigt, ein Gemisch aus Verzweiflung, Zärtlichkeit und Einsamkeit – ohne dich habe ich nicht mal Bock, raus an die frische Luft zu gehen. Hat denn das, was weit entfernt ist, überhaupt eine Existenzberechtigung? Und ist es für den Empfänger und den Absender das gleiche? Ist der Moment, wenn der eine plötzlich ergriffen ist, immer noch aktuell, wenn sein Echo die andere Seite erreicht? Jetzt, in diesem Moment empfinde ich so, und in einer Minute, wenn ich mir die Jacke über den nackten Körper gezogen habe und vom Balkon aus die Sterne betrachte, ist es schon wieder anders. Von dort und später ganz zu schweigen. Und wenn ich auf senden gedrückt habe, kommt das Schlimmste, das Warten auf Antwort. Wie haben sie das eigentlich früher mit Brieftauben hingekriegt mit den Zustellterminen und –orten? Hören wir denn etwa heute mit diesen ganzen modernen Kommunikationstechnologien, in den Telefongesprächen und Videochats voller Verzerrung, Fehlleitung und Unzeitigkeit die Stimme des anderen so, wie sie ist? Schreibst du die Nachrichten, weil du es willst, oder gibt es einen äußeren Zwang? Weil es alle machen. Weil es sich so gehört. Penelope. Das ewige Sinnbild. Die Ehefrau, die sich jahrein, jahraus nicht vom Fleck rührt. Die webt und wieder auftrennt. Webt und wieder auftrennt. Vielleicht sollte ich mir auch irgendwas Handwerkliches suchen. Filzen, Seife kochen. Oder Netze knüpfen.

[…]

 

9

Ich habe mir nie was aus Jungs gemacht, die womöglich mit achtzehn in der Armee landen, ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich mal ein Date in einer Kaserne haben würde. Schon im Kindergarten fand ich die ganzen Kriegsspiele und das patriotische Gehabe nervig, und auch im Teenageralter konnte ich den rivalisierenden Duellen der Jungs – Hahnenkämpfe mit blutig geschlagenen Nasen – absolut nichts abgewinnen. Im Unterschied zu meinen Freundinnen, die im Lernen und Outfit eigentlich mehr auf dem Kasten hatten als ich und regelmäßig bei den Testosteron-Ausbrüchen der Jungs im Schulflur an der Wand zu Boden sanken, hat mich das nie wirklich beeindruckt. Irgendwie habe ich immer geahnt, dass die Aggressivität, die sich während der Eroberung des Weibchens auf den Rivalen richtet, sich irgendwann gegen die Frau kehrt. Jetzt, wo ich schon ein bisschen älter bin, habe ich festgestellt, dass meine Theorie der umgepolten Aggressivität nicht aus der Luft gegriffen ist und sich im Alltag bewahrheitet: in einem patriarchalen Modell und Eifersuchtsgebaren, dem einige meiner Freundinnen – bis hin zu Handgreiflichkeiten – ausgesetzt sind. Dem liegt allerdings meistens ein bewusstes Kalkül zugrunde: Die Männer schieben die Kohle rüber, machen teure Geschenke und bezahlen den All-inclusive-Urlaub als Kompensation für die Veilchen, die man überschminken muss. Die Virtuosinnen auf diesem Gebiet finde ich beeindruckend. Sie rufen am helllichten Tag aus einem Schönheitssalon an und sprechen mit verführerischer Stimme die betörenden Worte: „Ich bin fertig mit der Maniküre, du kannst mich abholen, Bärchen.“ Diese Frauen haben es in gewisser Weise mehr drauf als ich. Ich fand es viel einfacher, auf den Führerschein zu sparen, mir von meinem selbst verdienten Geld ein Auto zu kaufen und das regelmäßig zu betanken, als einen Mann dazu zu bringen, meine popeligen Anweisungen und Aufträge auszuführen, so wie diese biedere Fernsehdiva, die mit ihren High-Heels aus dem Haus gestöckelt kommt und den ganzen Verkehr auf der engen Straße aufhält, weil der Wagen mit eingeschalteter Warnblinkanlage wartet, bis sie Platz genommen hat. Dabei muss ich an Ella denken, und ich frage mich, ob Artur je seine Hand gegen sie erhoben hat. Wahrscheinlich nicht, denn aus ihren Erzählungen würde ich schließen, dass er eher zu der Sorte Mann mit eiserner Willenskraft gehört, die kurzerhand für sich und andere entscheiden und ihren festen Blick aus dem in sich ruhenden Gesicht durchaus nicht immer kommentieren. So geht man ja auch mit Kristallvasen um: Man pflegt sie, kauft ihnen Blumen, stellt sie an einen gewienerten sonnigen Platz und legt ein Spitzendeckchen drunter. Die Vase hat keine Stimme und rührt sich nicht vom Fleck, aber es wird dafür gesorgt, dass es ihr gutgeht – das abgestandene Wasser wird rechtzeitig gewechselt, die Innenwände werden mit einer Brüste geschrubbt, sie wird auf Hochglanz poliert. Bei Überlegungen zu dieser Art von Koexistenz werde ich panisch. Was eigentlich ein Gefühl von Geborgenheit erzeugen soll, löst bei mir den genau entgegengesetzten Effekt aus – den vehementen Wunsch zu fliehen. Eine besondere Art Unruhe, die bei völliger Ruhe entsteht. Ähnlich geht es mir, wenn ich auf der Arbeit so viel zu tun habe, dass ich für nichts anderes mehr Interesse aufbringen kann, oder wenn es zu Hause so still ist, dass ich keine Lust mehr auf ein Abenteuer habe. Mich beschleicht der leise Verdacht, dass ich für unsere geschwisterliche Beziehung ohne Testosteron-Sprünge die Befriedigung meiner körperlichen Bedürfnisse als Frau geopfert habe, die ich mit zunehmendem Alter und zumal nach der Absetzung der Verhütungsmittel immer stärker spüre. Meine Patentante, eine einfache Frau vom Dorf, hat mich einmal ganz direkt, so, wie es nur Frauen können, die im Garten arbeiten, gefragt, wie oft junge Leute denn heutzutage Sex hätten, da sie sich Sorgen mache, ihr Schwiegersohn könne ein Schlappschwanz sein, ihre Tochter sei den Fragen nämlich mit witzigen Bemerkungen ausgewichen. „Du hast ja keine Ahnung, eine Frau, die Kinder zur Welt gebracht hat, die braucht’s immer öfter. Was denkst du denn, warum ich meinen hier immer noch aushalte, der ist nämlich schon sechzig, aber ich könnte jeden Tag!“, weihte sie mich in die Geheimnisse eines glücklichen Familienlebens ein. Die Tipps, mit denen sie auf mein Schweigen reagierte, waren obligatorische Maßnahmen, etwa das Fernhalten des Handys von den reproduktiven Körperzonen und die Zubereitung eines Suds aus schwarzem Holunder, der zwar tödlich sein konnte, wenn man mit der Dosierung nicht aufpasste, aber wenn der Kerl sowieso nichts taugte, wär’s um ihn auch nicht weiter schade. Damals hatte ich diese Ratschläge als Monolog einer alten Sau abgehakt, aber jetzt musste ich gerade wieder dran denken, und mit Schrecken wurde mir klar, dass ich mich seit deiner Abreise nicht mehr rasiert habe. Jetzt tut es mir fast leid, dass ich nicht gleich von Anfang an einen Blog zu diesem Thema geschrieben habe. Sofia ist von Neuigkeiten wie diesen alarmiert – ja, gibt es denn tatsächlich Leute, die auf die teuren und größtenteils nutzlosen Laseranwendungen, mit denen sich die Haare dauerhaft entfernen lassen, noch nicht hereingefallen sind? Komischerweise reicht da ein Termin nicht aus, sondern man muss immer wieder hin, jahrelang, und jedes Mal geht dafür das Monatsgehalt einer Lehrerin drauf. Im Eifer, mein Gestrüpp zu bändigen, ist Sofia sogar auf die Idee gekommen, ich könnte mir eine Intimrasur machen, wenn ich schon diese üppige Spielwiese hätte, aber dann fiel ihr eine Freundin ein, die ihrem Liebsten zum Valentinstag eine Überraschung bereiten wollte und eine Katze mit Pailletten und Strassstein-Augen auf ihren Venushügel setzte. Im heißesten Moment ging ihm die Body Art kaputt, und da sich der Mann im Stand der Ehe befand, verbrachten die beiden mehr Zeit im Bad, um die Spuren der Untat zu beseitigen, als mit den Freuden der Lust, denn wie bei jeder Affäre war ihre gemeinsame Zeit begrenzt. Zum Glück ist da noch meine Patentante, die mit ihrem beredten Beispiel bestätigt, dass das gemeinsame Schlafen in einem Bett nicht zwangsläufig zu nachlassender und später sogar versiegender Lust führen muss.

Ich habe ja nun etliche Züge und Kleinbusse vor mir, wer weiß, was nach der Fahrt von der schönen Verzierung noch übrig wäre, also verwerfen wir diese buchstäblich glänzende Idee.

Die Haare waren inzwischen unanständig lang, wie in einem Retroporno, Wildwuchs, das passte irgendwie gar nicht zu meiner Experimentierfreude. Der Gillette Venus hatte seinen Geist aufgegeben, und ich musste das Gestrüpp ständig waschen, das meditative Rauschen des Wassers bildete den Hintergrundklang zu meinen Überlegungen, wie das hatte passieren können. Wie konntest du als Macho mit Testosteronmangel und ohne jegliches Potential eines Cheat-Meal-Kriegers unter all diese Macker geraten? Und mich mit hineinziehen.

Mein Körper kommt mir vor wie ein graues, schlaffes Etwas, den Muskeln fehlt es an Tonus, der Haut an Spannkraft, die Gelenke knacken verdächtig, obwohl ich mich zusammenreiße und zweimal pro Woche ins Fitness gehe. Die Anti-Cellulite-Creme habe ich mir allerdings nicht gekauft. In diesen Momenten finde ich es immer schade, dass ich nicht sehen kann, wie es ohne diese Fitnessfolter wäre. Etwa noch schlimmer? Oder sollte ich mir die ganze Quälerei einfach sparen? Dann klicke ich zufällig auf die Seite einer leidenschaftlichen Fitness-Frau und stelle fest, dass ich einfach ein faules Aas bin. Diese Person hat alles unter Kontrolle, dazu die passenden Insta-Fotos, um sich ja kein Junkfood in den Mund zu schieben. Von Alkohol und Zigaretten ganz zu schweigen.

Diesbezüglich amüsiert mich auch die Zyklus-App, denn in die Spalten zur gesunden Lebensweise kann ich nicht sonderlich viel Brauchbares eintragen. Höchstens ausreichend Schlaf, minimale körperliche Anstrengungen und vergrößerte Brüste, letzteres zeugt allerdings davon, dass wir uns zwar noch vor meiner Regel, aber lange nach dem Eisprung sehen. Das habe ich extra ausgerechnet. Präser habe ich trotzdem gekauft, just in case, obwohl wir nie welche benutzt haben und ich nicht wusste, welche ich gut sind, also habe ich einfach die teuersten genommen.

Der Umstand, dass ich packen muss, stürzt mich in Verwirrung und subtile Panik. Erst jetzt merke ich, was für ein Chaos hier herrscht. Seit du weg bist, habe ich es gerade noch so geschafft, den Müll rauszubringen, was bis dato deine Aufgabe war, deine anderen Aufgaben – Staub saugen, Bad und Toilette putzen – habe ich einfach ignoriert. Die Betten frisch zu beziehen und Staub zu wischen, fand ich auch überflüssig. Immerhin habe ich noch den Geschirrspüler und die Waschmaschine bestückt. Da ist es auch kein Wunder, dass der Nikolaus mir unartigem Mädchen nichts gebracht hat. Es wäre einfacher, wenn ich meinen körperlichen Zustand und die Verwahrlosung der Höhle auf die Kinder schieben könnte. Die Klamotten liegen in der ganzen Bude rum, und die wenigen Stücke, die tatsächlich den Weg in den Schrank gefunden haben, bilden ein heilloses Knäuel, aus dem ich meinen Lieblingspullover an einem Ärmel herausziehe. Was soll ich denn nun zu diesem so genannten „Wiedersehen“ anziehen? Draußen ist es saukalt, im Zug und in den Bussen sicher stickig. Dass es unmöglich ist, mit einer Daunenjacke und Strumpfhosen unter den Jeans vernünftig auszusehen, von sexy gar nicht zu reden, weiß man ja von diesen ulkigen Schockbildchen. Aber in Schlabbershirt und Hosen zu fahren, ist genauso blöd wie im Glockenrock mit transparenter Bluse. Schließlich entscheide ich mich für blickdichte Strumpfhosen mit Netzoptik und ein sackförmiges knielanges Wollkleid. Die Stiefel mit Keilabsatz retten den Look halbwegs, aber an der Daunenjacke führt kein Weg vorbei. Ich habe für dich in den Staaten Thermounterwäsche mit Nanotechnologie bestellt und für mich Spitzenunterwäsche, die farblich zu meinen Aubergine-Haaren passt. Das Atlaskorsett betont meine Büste und meine Taille und sieht verführerisch aus, wenn ich es nur nicht die ganze Zeit in allen Verkehrsmitteln mitschleppen und dann aus dem Klamottenhaufen kramen müsste. Ich laufe in Pyjama-Hosen durch die Wohnung und komme vom Packen ab, weil ich erst mal meine Brüste im Spiegel studieren muss. Eine Brust sitzt etwas höher, die andere etwas tiefer, beide sind prall und fest, die Warzen treten fast immer hervor und zeigen nach oben. Es fühlt sich angenehm an, sie zu drücken und das Kribbeln im Warzenhof zu spüren. Meine Nippel mag ich wirklich. Ich knete sie und schicke mir ein Küsschen in den Spiegel. Du zwinkerst mir von der anderen Seite des Spiegels zu: „Bald sehen wir uns, Mäuschen!“ Na, wenn das kein Grund zur Freude ist. Ich wuschle meine Haare und fühle, dass bald schon alles anders wird – Hauptsache, wir sehen uns endlich, ganz in echt! Und müssen uns nicht mehr mit diesen blöden Chats rumärgern! Dann dauert es auch nicht mehr lange, bis du zurückkommst, wir ziehen zusammen rum und sind cooler als Walerija und Anton! Was könnte uns schon abhalten?

Pah, von wegen Züge und Kleinbusse! Ich schmeiße das Korsett in die Tasche und stelle mir dein Gesicht vor, an das ich mich so gern anschmiegen würde. Ich werde schon eine Gelegenheit finden mich umzuziehen, und hoffentlich wird das nicht so plump wie in diesen aufgesetzten Filmszenen, in denen sie sich für zwanzig Minuten im Bad einschließt, um dann mit einem atemberaubenden Aussehen zu erscheinen, während er schon am Wegnicken ist. Ich packe auf jeden Fall noch ein paar Slips ein, wer weiß, wonach mir dann der Sinn steht! Ich stelle mir deine Hände und deinen Rücken vor. Denke daran, wie gern du mich hinter den Ohren küsst, da wird mir gleich schwindelig. Jetzt noch einen Lippenstift als Reserve, am besten den grellroten! Um die Berührungsängste abzubauen, die ich schon kommen sehe, habe ich uns noch ein paar Leckerbissen besorgt: ein Gläschen Foie gras, zwei Flaschen Wein – Shiraz und Chianti –, gebrannte Salzmandeln, Chèvre, Roquefort, Minz- und Marzipanschokolade, Erdnüsse in Wasabi, Oliven und Parmaschinken. Der Laden mit den geschmuggelten italienischen Lebensmitteln ist ganz in unserer Nähe, es war eines der ersten in der Stadt und hat einen tadellosen Ruf. Der Käse und der Parmaschinken sind immer frisch. Der Thunfisch und die Mascarpone erstklassig. Die Besitzerin hat eine Schwester in Neapel, ihr gehört das Restaurant, in der meine Mutter ihre Hochzeit mit Marcello gefeiert hat, in umgekehrter Richtung besteht eine ebenso große Nachfrage. Die Inhaberin kontrolliert die Angestellten durch ihre permanente Anwesenheit, der Laden ist bis 21.30 Uhr geöffnet, deswegen müssen ihre Töchter die Hausaufgaben im Laden machen, während sich die Mutter non-stop russische Serien reinzieht. In ihrer Welt, versiegelt wie ein Glas Kapern, ist alles Routine. Eine Kaper ist ihre Schwester in Italien, die sich bei Ausverkäufen mit dem Wichtigsten eindeckt, eine zweite der Fahrer des Schmuggelbusses, eine der Zöllner, der beim Grenzübertritt entsprechend entlohnt wird, eine der Wechsler, bei dem sie das Bargeld tauschen, eine die Bankangestellte, die ihnen ohne vorherige Anmeldung die Mehrwertsteuer erstattet. Irgendwann war Sand ins Getriebe gekommen und das Angebot geschrumpft, aber dann hat sich alles stabilisiert, und es ging wieder aufwärts, denn dank solcher Kunden wie mir ist die Nachfrage praktisch konstant geblieben.

Mit der Kosmetik und der Kleidung hat die Tasche ein ordentliches Gewicht, ich fühle mich wie die Frau eines Dekabristen, eine unverwüstliche Intelligenzlerin, die in irgendeinem Winkel noch Reste von Luxusgütern gefunden hat und diese nun mit ihren blaublütigen Händen durch die Gegend schleppt, im Frost werden sie rot – wie bei der Frau im Glitzerkleid – und irgendwann blau, wegen dem blauen Blut. Und irgendwann fallen sie ab.

Der Schnellzug nach Kiew geht morgen früh um 5:50 Uhr, und natürlich schläft man nicht besonders gut, wenn man so zeitig raus muss. Aber mit dem Nachtzug wollte ich nicht fahren, denn es kommt einer Lotterie gleich, ob man da überhaupt schlafen kann, das letzte Mal hat einer der Mitreisenden geschnarcht, der zweite das obligatorische Brathähnchen mit sauren Gurken und gekochten Eiern gegessen, der dritte kam nachts um eins betrunken angetorkelt, und als er sah, dass ich aufgewacht bin, hat er mich genötigt, einen viertel Liter Kognak und die Schokoladenreste mit ihm zu verzehren. Ich scrolle dumpf durch Facebook und Instagram, denn in meinem Zustand ist an lesen oder Film schauen nicht zu denken. Sofia, Walerija und Anton sind auf dem Weg nach Amsterdam, die drei haben sich gefunden für Partys und Festivals für elektronische Musik. They feel refreshed. Das kann ich von mir nicht behaupten. Für mich passt eher der Track „Langsam schlendere ich an dem Typen vorbei, der ein Literglas in der Hand hält und mit dem Tauchsieder Wasser heiß macht.“ Feeling Damaged. At Lviv Train Station. Ich steige in den Zug, der von weißem, kaltem Licht erleuchtet wird. Die Dunkelheit draußen macht mir Hoffnung auf ein wenig Schlaf, der könnte mir nicht schaden, denn ich habe noch zwei Höllengefährte namens Marschrutka, Kleinbus, vor mir. Haut und Augen brennen, im Magen gurgelt es, eigentlich habe ich keinen Hunger, aber damit mir nicht übel wird, zwinge ich mich, eine Banane zu essen, doch davon knurrt der Magen nur noch lauter. Kaum dämmere ich zusammengerollt weg, merke ich, wie das Steißbein und die Wirbelsäule zu schmerzen beginnen, und schon gesellen sich – wegen des Platzes mit Tisch – drei Männer zu mir, die, noch bevor der Zug losgefahren ist, auf einer Folie Schinkenwurst, Gurken und Schwarzbrot aufschneiden und eine Flasche Jean Jacque entkorken. Dieses Stillleben ruft in mir nur eine Frage hervor: „Warum, warum verdammt noch mal, verfolgen sie mich?“ Es versteht sich von selbst, dass ihr Gelage nicht leise vonstattengeht, sie belästigen mich nur mit ihrem Geruch, nötigen mich aber nicht zu einer Beteiligung an ihrem gehaltvollen Frühstück und gehaltlosen Gespräch. Wenn man schon in dieser unmittelbaren Nähe ausharren muss, in der der Kampf um die Armlehne unvermeidlich ist, lässt sich ein Kennlerngespräch nicht vermeiden. Manche Leute sind sehr zudringlich in dem Wunsch herauszufinden, mit wem sie da gerade zufällig geschlafen haben. Besonders wenn sie irgendeine raffinierte Statistik über verkaufte Müsliriegel im Gebiet Kirowohrad, Chmelnyzkyj und Iwano-Frankiwsk führen. Auf den Plätzen dahinter sitzen ihre Kollegen, und nach dem ersten ordentlichen Morgenschluck massiert einer der Frau auf dem Nachbarplatz die Ferse. Für diesen Pegel sehen sie ziemlich adrett und braun aus, als kämen sie gerade aus Ägypten. Der ganze Gegensatz zu den grauen Mäusen in der Parallelreihe, in Daunenjacken und mit Kopfhörern überm fettigen Haar. Ich hoffe inständig, dass ich nicht so aussehe wie sie, nicht umsonst habe ich mir gestern die Haare gewaschen und die Augenbrauen gezupft. Auf dem Weg zur Toilette sehe ich, dass der frühere Bürgermeister von Lwiw mit seinen langweiligen Papieren ebenfalls im Zug sitzt; eine blonde Marketingfrau, die an irgendeiner Strategie arbeitet; eine Managergruppe der Kette Sport Life, die da waren, um ein neues Fitnesszentrum einzuweihen; ein Versicherungsvertreter, der am Telefon eine Autoreparatur für – in Worten – einhundertsiebenunddreißigtausend Hrywnia regelt und parallel dazu mit einem Retrolehrbuch von Eckerley Englisch lernt. Zwischen ihnen schieben sich Sandwich- und Kaffeeverkäufer durch, die wie Italiener aussehen: ein kleinerer mit Locken, der zweite tätowiert, mit gegelten Haaren. Ihr Aussehen ist irgendwie unpassend, ganz anders vor allem als das der Esser der Schinkenwurst, deren Reste ungerührt im Müll landen. Es genügt, die kleine private Blase zu verlassen, um zu erleben, welch ein unerwünschtes Leben die anderen Mitglieder des Menschenstroms leben.

Der Fersenfummler erklärt sich zum Präsidenten. Zum Präsidenten des Großraumabteils, das er anschließend mit russischem Pop von seinem Handy beschallt, damit die Fahrt nicht so langweilig ist – das ist sein Wahlkampf! Derweil klingelt bei seiner Gespielin das Handy, die Stimme von Slawa Wakartschuk besingt ihre grünen Augen. Für die Klingeltöne in Liedform würde ich mir am liebsten eine Höllenstrafe ausdenken, ich weiß nur noch nicht, welche besonders peinigt. „Sag mir die Wahrheit!“, brüllt die Frau aggressiv in den Hörer, „ich kriege es sowieso raus, wenn du nicht zu Hause übernachtet hast.“ Gleich wird die Massage des großen Zehs rhythmischer. Der Präsidentschaftskandidat geht in Korostyn von der Strecke. Auf den Monitoren läuft ein Clip über einen Typen, der mit einer Chili-Schote in die Wanne steigt, über einer Tussi, die sich vorgenommen hat, fetter als alle anderen zu werden, und über Hochseilartistik auf Stühlen über einem Abgrund, darauf folgt ein Beitrag über die irreparablen Schäden, die manche Passagiere im Zug anrichten. Im Durchgang schaukelt eine Mutter ihr Kind im Wagen, dessen Gebrüll eine junge Frau mit schwarzen Lippen und einem Choker um den Hals nicht am Relaxen hindert, weil sie eine Häschen-Schlafmaske trägt. Zwanzig Minuten, bevor der Zug ankommt, schläft das Kind ein, und ich falle in Schlaf, deswegen steige ich zerschlagen mit meiner schweren Tasche aus und fühle mich, als hätte mich ein penetranter Reisegeist wie einen Kaugummi durchgekaut und ausgespuckt.

Auf dem Bahnhof fallen die Taxifahrer über mich her: Du erzählst ihnen was von Uber und Uklon, und sie leiern weiter ihr: 300 Hrywnia und los geht’s. Es ist zugegebenermaßen verführerisch, aber ich reiße mich zusammen, es wäre mir peinlich, mich so gehen zu lassen, während du jeden Tag in aller Herrgottsfrühe aus einem unbequemen Bett aufstehen musst. Vielleicht ist das auch Quatsch. Der Kleinbus, in dem man – anders als im Zug – die Lehne nicht verstellen und sich nicht mit einem Gang zur Toilette die Beine vertreten kann, piesackt mich wie tausend Nadeln. Wie erwartet ist drinnen die Luft zum Schneiden, die Fenster sind beschlagen, und die Radiatoren sondern einen brenzligen Geruch ab, penetranter als jedes Parfüm. Kalte Füße kriegt man trotzdem. Eine Fußmassage fände ich jetzt ehrlich gesagt gar nicht übel. Neben mir lässt sich ein Mann nieder, so einer, wo man nie weiß, wie alt er ist. Alter hin oder her, jedenfalls sieht er dämlich aus. Er hat eine riesige Glatze, einen schartigen Schneidezahn, und sein Rücken ist zu breit für den Sitz, was allerdings mehr am Sitz liegt und weniger am Rücken. Die Umrüstung eines Transporters zu einem Kleinbus ist ein Unterfangen nach dem Motto „Mach den Passagieren das Reisen unerträglich!“, eigentlich müsste das strafrechtlich verfolgt werden. Wie sich rausstellt, ist er 33. Ich gerate heute ständig an Gesprächspartner mit der übergriffigen Angewohnheit, gleich zum du überzugehen. Dann grunzt er auch noch wie ein Wildschwein, und das kommt ganz natürlich rüber. Wie die meisten anderen Leute interessiert es ihn nicht im Geringsten, wohin ich wohl mit meinem Foie gras unterwegs bin. Er hat einfach einen unbezwingbaren Hang zum Monolog:

„Ich mach was Intellektuelles. KGB oder so, nur dass das jetzt nicht der KGB ist. Ist ja alles voherbestimmt, jeder kriegt, was er verdient: der eine ist Gärtner, der andere schreibt irgendwelche Briefe. Und ich mache eben was anderes. Was anderes. Als ich jung war, habe ich Sport gemacht. Boxen. Ich hatte eine gute Figur. Jetzt habe ich schon graue Haare. Ich bin Junggeselle. War im Krieg.

Ich zucke unwillkürlich zusammen, aber er fährt unbeirrt fort:

„Einmal lagen wir im Feld, mit Gurken, und wurden beschossen. Willst du ‚ne Gurke, frage ich meinen Kumpel, schmecken gut. Und der sagt nichts. Weil er tot ist. Er hatte noch ein Lied geschrieben. ‚Der Tod ist wie ein Traum, es dreht sich unser Rad.‘ Witzig, oder? Ich wollte dir mal was Lustiges erzählen.“

„Was soll denn daran lustig sein? Das ist krass.“

„Krass ist ein sehr gutes Wort. Du hast Humor, das ist gut. Hast du Der Fürst von Machiavelli gelesen? Das musst du mal lesen. Ich habe außerdem die Briefe von Seneca gelesen, die Bibel und den Koran, da geht’s mehr ums Patriotische, und dann denen ihre buddhistische Bibel, das ist ja mehr so mit Liebe. Mein Lieblingsfilm ist Hamlet, der, wo Smoktunowskij die Hauptrolle spielt. Weißt du, ich bin nicht aus Patriotismus gegangen. Mir war’s langweilig. Ich brauchte mal einen Tapetenwechsel. Meine Freunde waren alle dagegen.“

„Wen wundert‘s“, sagte ich, obwohl ich gar nicht wusste, was ich da genau kommentierte, seine Motivation oder die Reaktion der Freunde.

„Stimmt, das wundert einen nicht. Aber weißt du, was einen wundert? Ich habe da so eine Sendung gesehen. Die wollen jetzt Leute auf den Mars schicken, nur in eine Richtung. Ärzte, alle möglichen schlauen Wissenschaftler, so was wie die Arche Noah.“

„Na, ein Glück, dass ich keinen Fernseher habe.“

„Wie, du hast keinen Fernseher? Na, so was! Bist du denn so arm? Ich würde dir einen schenken. Bist doch so ein hübsches Mädchen. Aber auf den Mars ohne Rückflug, das würde ich nicht riskieren. Und wenn was passiert? Vielleicht wenn sie mir eine Granate mitgeben, dass ich es im Notfall schnell hinter mich bringen kann.“

„Also, jetzt hören Sie aber auf!“

„Wieso denn? Dafür brauche ich im Kleinbus nicht zu bezahlen. Immerhin bin ich ein Kriegsveteran. Habe sogar eine Tapferkeitsmedaille bekommen. Ich bin 33. Junggeselle.“

‚Jesus Christ Superstar, verdammt‘, ging es mir durch den Kopf, ‚halten Sie an der Kreuzung des Planeten an, ich steige aus.‘

Vorm Fenster flimmerten die Felder vorbei, auf den zugefrorenen Teichen, die mit wirren Spuren bedeckt waren von jemandem, der offenbar vor sich selbst fliehen wollte, versuchten Angler etwas zu fangen, was gar nicht da war. Wer weiß, was sie sich erhofften, es gab nichts Trostloseres als ukrainische Dörfer im Winter, verbunden über unpassierbare Straßen mit gelb-blauen Haltestellenhäuschen, Stromleitungen, auf denen Krähenschwärme sitzen, und Poststellen in malerisch-tristen Hütten, die mit derselben Farbe gestrichen wurden wie die Haltestellenhäuschen. Und aus demselben Farbtopf.

Der Kleinbus fährt die Straße der Dekabristen entlang, das passt zu diesem Dezember, in dem es schon dunkel wird, noch ehe es richtig hell geworden ist, und ständig die Himmelshühner gerupft werden. Ich schleppe die Tasche der Dekabristenfrau, die die Reste des Luxuslebens fasst, wische über die Scheibe und betrachte eine weitere Kleinstadt, in der mehr streunende Hunde durch die Straßen laufen als Menschen, weil die Menschen hier entweder in Hoffnungslosigkeit aufgegangen oder in die nächste Großstadt gezogen sind. Oder – schlimmer noch – jeden Tag dorthin zur Arbeit fahren, weil von den dort Ansässigen keiner diese Arbeit machen will. Als Hilfskraft im Krankenhaus oder Putzfrau bei McDonald’s am Bahnhof. Wir fahren an einem MiG-Denkmal vorbei, an einem Großflächenplakat mit imitierten Einschusslöchern auf rotem Grund und der Aufschrift „Menschen ohne Ausbildung in den Krieg zu schicken heißt, sie zu opfern“ (Konfuzius), an einem gelben Großplakat auf rosa Grund mit dem Text „Kämpfer, sei stolz! Nichto krim nas.“ und an einem geschlossenen Warenyky-Imbiss im Erdgeschoss eines Hochhauses, mit einem schiefen Schild und einem verrosteten Vorhängeschloss an einer verbeulten Aluminiumtür. Auf Google maps sieht man genau, dass die Sackgasse der Jungen Kommunarden hinter ein paar Höfen senkrecht auf die Straße der Himmlischen Hundert trifft.

Wir fahren an einem Eigenheim vorbei mit einer grell-lila Veranda und einem grasgrünen, perfekt polierten Lada davor, direkt daneben das Geschäft „Design und mehr“, das offensichtlich die Nachbarn sehr inspiriert oder denselben Besitzer hat. Die architektonischen Formen sind eigentlich ganz hübsch, nur leider in einem so furchtbaren Zustand, dass sie nicht als Kulissen für einen romantischen, sondern für einen apokalyptischen Film taugen, in dem nur ein einziger Alki überlebt hat, der in der Schlussszene an das Imbissfenster wummert und eine kleine Flasche Wodka will. Wie viel Mühe sich die Regisseure, Kameraleute und Drehbuchautoren auch geben, die Wirklichkeit ist trotzdem schlimmer als der deprimierende Film, den sie drehen.

Die Armeeeinheit liegt wie eine Perle in dieser ganzen unpassenden Umgebung. Vor dem schweren Metalltor laufen ein paar Jungs rum, in jedem suche ich dich – so ähnlich sehen sie aus mit ihren Mützen, Pixel-Uniformen und khakifarbenen Fleecejacken. Aber nirgends kann ich dein Gesicht entdecken, und mit dieser wuchtigen Tasche fühle ich mich wie bestellt und nicht abgeholt. Irgendwann kommst du aus dem Kontrollpunkt, die Wände mit dunkelblauer Ölfarbe aus einem Eimer der Wohnungsverwaltung gestrichen wie die Treppenhäuser in diesem Land mit ihren Gardinen und Geranien in den Fenstern. Der gleichförmige Geist in allen diesen Kontrollpunkten ist stärker als alle staatlichen Normierungen. Weil die Fahrt so lange gedauert hat, kommt es mir vor, als wäre der Tag schon fast zu Ende. Wir begrüßen uns irgendwie verlegen, ich warte darauf, dass du mir einen langen und leidenschaftlichen Kuss gibst, aber unsere Lippen berühren sich nur flüchtig, danach unsere Wangen, und dann stehen wir da und treten von einem Bein auf das andere. Du schlägst vor, in den Besucherraum zu gehen, tatsächlich gibt es hier den Luxus eines Separees, in dem man für sich sein kann, aber da würde ich mich wie im Gefängnis fühlen. Ich stelle mir ein Zimmer mit einem gepanzerten Bett und zwei Stühlen vor. Das Licht von der Deckenlampe ist sicher so grell, dass von einer intimen Begegnung nicht die Rede sein kann. An solchen Orten zählt man darauf, dass der lange unterdrückte Trieb mit seiner primitiven Lust die Oberhand über die Atmosphäre gewinnt, weil man ja weiß, dass die Zeit begrenzt ist.

Ich schaue durch den Zaun zur Kaserne und bin froh, dass er mich zuverlässig von diesen überfüllten Räumen trennt, in denen das einzig Private der Nachtschrank ist. Ich bin glücklich, per Dekret getrennt zu sein von Gejohle, Gekotze, abgelassenen Fürzen, ungewaschenen Körpern und popelnden Fingern. Ich höre schweinische Witze, die eigentlich unerfüllte Phantasien sind, im Kopf gehegt, um sich aufzugeilen und die Mutter der eigenen Kinder zu ficken. Ich merke, dass ich es genauso schrecklich fände, den Kontrollpunkt zu passieren, wie ich es schrecklich fand, zu Nikolaus mit dieser Mission unterwegs zu sein. Und dass unsere ganzen Leckerbissen da drüben lächerlich wirken würden. Eine junge Familie kommt von dem Gelände, die Erwachsenen sind angetrunken, der uniformierte Mann schwankt und raucht ein Pfeifchen, die Frau wedelt glücklich mit einer in Zellophan verpackten Rose, der Junge quengelt, er wolle noch beim Papa bleiben. Ich rieche Alkohol, Rauch und vernachlässigte Hygiene. Ich stelle mir vor, dass sie jetzt gerade aus diesem Raum gekommen sind, während der Junge beim Wachmann auf einem Stuhl gesessen und gewartet hat. Du spürst mein wachsendes Unbehagen und bleibst vor dem Eingang stehen. Dafür bin ich dir sehr dankbar. Behutsam, kurz geschoren. Ich nehme die Mütze ab und streiche dir lächelnd übers Haar.

„Hör mal, vielleicht gibt es hier irgendwo ein Plätzchen, wo wir uns niederlassen können, bisschen abseits? Du darfst doch raus?“, frage ich hoffnungsvoll und beinahe flüsternd.

„Natürlich!“ Stolz holst du deinen Wehrpass raus, ein graues Blatt mit einem Stempel, der auf diesem Toilettenpapier verlaufen ist. Das ist wohl deine Ausgangserlaubnis.

Wir stehen verlegen und unentschlossen da, du hältst mich an der Hand, und ich sehe, wie dein Gehirn fieberhaft nach einer Lösung sucht. Eine Blondine in Uniform läuft energischen Schrittes an uns vorbei und lächelt dir vielsagend zu. Sie weiß genau, wohin sie will. In mir steigt eine schulmädchenhafte Wut auf. Du drückst meine Hand und sagst: „Ihr Freund hat eine andere geheiratet. Er konnte nicht warten.“ Ich ärgere mich noch mehr, weil ich merke, dass du seit anderthalb Monaten ein anderes Leben hast, das mir ganz fremd ist. Ich gehöre nur bedingt dazu. Wie ein Attribut, das nicht zum obligatorischen Armeestandard gehört – diejenigen, die zu Hause warten (wenn sie Glück haben, nicht vergeblich). Die kanonischen Empfänger der allabendlichen sms.

„Ach, warte! Tante Katja!“

Wird jetzt tatsächlich die legendäre Küchenfrau unsere Datemanagerin? Ich weiß nicht genau, was dir da gerade eingefallen ist, aber ich folge dir am Kasernenzaun entlang, vorbei an den Fünfgeschossern mit den Balkonen, die mit Busfenstern verglast sind und auf denen Uniformen und Zivilkleidung nebeneinander trocknen. Auf einem Balkon hängt neben einer Armeejacke ein schwarzer Pullover Sweet dreams. Eine Frau im Pelz kommt uns entgegen und zieht ein kleines Mädchen auf einem Schlitten, das freudig eine fuchsrote Klößchenzange auf und zu klappt. Aus einem gelb gesprenkelten Schneehaufen ragt einsam ein lila Pappbecher. Endlich kommen wir an einem einstöckigen Gebäude an, dessen eine Seite ein großes Schild mit der Aufschrift „Autoersatzteile“ ziert. Ein klappriger Jeep kommt angefahren, sein Fahrer begrüßt dich zahnlos und freundlich. Auf der anderen Seite dieses tristen, aber recht geräumigen Gebäudes befindet sich das Café Switlana. Hier arbeitet Tante Katja offenbar, wenn sie in der Armeekantine keinen Dienst hat.

Der Raum ist leer, die Deko der letzten Hochzeit ist noch da – schwarz-weiße Stuhlbezüge und an der Wand ein großes Pappherz.

„Na, wer kriegt denn hier Besuch von einem so schönen Mädchen? Soll ich euch zwei Hübschen mal einen Tee machen?“ Die Stimme kommt aus dem Nichts, hallt in dem schlecht beheizten Raum, ich zucke zusammen. Mit einem vielsagenden Blick versuche ich, deine Aufmerksamkeit auf die Tasche zu lenken.

„Danke, Tante Katja. Ich nehme mir mal einen Teller, ja?“

„Ach, sie hat dir wohl was Leckeres zu essen mitgebracht? Nimm, na klar!“

Na, hallöchen T – Komma – Katja. Genau so habe ich Sie mir vorgestellt, einschließlich des Parfüms, das nach verbranntem Öl riecht.

„Ich habe gar nicht gewusst, dass hier auch Frauen dienen …“ Eine komische Art, das Gespräch zu beginnen, aber seit du die Blondine am Kontrollpunkt angelächelt hast, ist mir mulmig.

„Die Armee macht aus jedem einen Mann, sogar aus einer Frau“, gibst du scherzend zur Antwort. Und entkorkst den Wein mit einem lustvollen Plopp. Zu dieser Entgegnung hätte ein halbtrockener Wein besser gepasst als ein italienischer.

Ich schaue dich an und denke, dass du selbst mit dem Igel viel zu intelligent aussiehst für diesen Ort hier. Trotzdem hat sich da ein militärischer Klang in dein Reden eingeschlichen. Und …

„Du hast dir ja schon richtig breite Schultern antrainiert“, kommentiere ich, was ich sehe. Eigentlich sollte es ein ehrliches Kompliment sein, aber es kommt irgendwie bissig rüber.

„Ja, wir trainieren hier jeden Tag. Am Anfang hatten wir überhaupt keine Geräte, also haben die Jungs aus allem möglichen Schrott was zusammengeschweißt, alte Räder und so. Ziemlich viele wissen nicht so richtig, warum sie eigentlich hier sind, da denken sie sich, dann tu ich wenigstens was für meine Figur.“

„Hm, habe ich in eurer Gruppe Vkontakte gesehen“, wäre mir beinahe rausgerutscht, aber zum Glück fällt mir rechtzeitig ein, dass ich dir meine Schnüffelei ja nicht unbedingt auf die Nase binden muss.

Ich nehme den ersten Schluck Wein, und nach meiner langen, anstrengenden Fahrt breitet er sich in meinem Körper aus, löst die Spannung und nimmt die letzte Kraft, die schon vorher nur noch Ärger und Anspannung gereicht hat. Du streichst mir über die Nase und hältst mich bei der Hand. Ich lehne mich an, drehe dir den Rücken zu und kämpfe mit den Tränen. Unser Stillleben erinnert wenn nicht an ein Festessen zu Zeiten der Pest, so an einen Diamanten in einem Kohleschacht, an eine Perle im Schweinestall oder eine Opernkarte im Konzentrationslager. Wir nehmen jeder einen Happen von diesen absurden Delikatessen, und das Essen hebt die Stimmung. Du hältst mich an der Hüfte und fasst mir an die Brust. Aber du machst keine Andeutungen, dass wir uns irgendwohin zurückziehen könnten. So sitzen wir die ganze Zeit da, still an die Wand gelehnt. Jedes Mal, wenn du die Hand von meinem Knie nimmst oder unsere Hände entflichtst, gähnt an der Stelle ein schwarzes Loch, in das unsere Liebe rieselt wie Sand durch die Finger. Eine Liebe, die aufgelodert ist, als du im Schnee, da, wo wir gerade mit unseren Rücken einen Engel in den Schnee gedrückt hatten, unsere Namen und Herzchen gezeichnet hast.

„Komm, wir machen jetzt ein Kind!“, sagst du plötzlich weder laut noch leise, sondern halb verzagt, halb gleichgültig.

In meinem Inneren bricht alles zusammen, und eine Welle panischer Übelkeit überrollt mich. Ich kriege keine Luft mehr, als wäre da wie aus dem Nichts ein unsichtbares Allergen aufgetaucht, das Jucken und Schleimhautreizung hervorruft. Ich drehe mich zu dir, schaue dich aus tränenglänzenden Augen an und sage nichts, denn das ist weder Rührung noch Freude, sondern etwas anderes. Mein Blick macht dich ratlos, die einzige Idee, die dir kommt, ist: mich endlich zu küssen. Einerseits spüre ich Erregung, andererseits etwas, das ich früher nicht gekannt habe. Als wärst du mir fremd. Als hätten wir uns gerade erst kennengelernt. Alles fremd, wenn du mich berührst und wenn ich dein Gesicht sehe. Aus unseren Küssen wird Petting, und ich merke, dass mich der Wunsch überkommt, unter den Tisch zu kriechen und dir die Hose aufzuknöpfen. Sogar der Geruch und die Kälte in diesem Nachhochzeitsraum werden von der Lust blockiert, und meine Abneigung gegen den Ort wird weniger.

„Das nächste Mal mieten wir uns eine Wohnung in der Stadt“, sagst du und ziehst meine Hand weg, die sich schon in den Hosenstall schieben will.

Mir kommen die Tränen von dieser ganzen Ungerechtigkeit, der unbefriedigte Körper stöhnt schier vor Wut, du legst die Hand hinter den Kopf, lehnst dich gegen die Wand und schließt die Augen. Ich stelle mir vor, was man in diesem Nest mit Balkonen aus Busscheiben mieten kann – weniger erotische Plätze muss man erst mal finden.

„Ach, Mäuschen, wenn wir doch jetzt am Meer wären.“

Plötzlich fällt mir ein, dass ich mir keine Rückfahrkarte gekauft habe wegen irgendeiner Erwartung, die ich mir nicht mal selbst eingestehen wollte. Du kneifst mir in den Po, und während ich denke, bloß gut, dass ich mich nicht auf die Idee mit den Strasssteinen zwischen den Beinen eingelassen habe, sagst du, als würdest du bloß das Wetter kommentieren: „Ich glaube, du hast zugenommen.“

Wir treffen uns zwischen Eisprung und Menstruation. Komm, wir machen ein Kind. Das klingt so, als ob hier einer seinen Spott treibt, aber natürlich tut keiner dem anderen absichtlich weh. Unendlich fern, ja schier erfunden scheinen die Tage, die wir mit einem späten Bierfrühstück nach einem Spaziergang begonnen haben, an denen die euphorische, warme Freude zirkulierte und sich wie von selbst vermehrte.

Eigentlich wollte ich bei Freunden in Kiew übernachten, aber die Stadt mit ihrer Konzentration an Hochhäusern und Neubauten kommt mir so feindlich vor, dass ich mir eine Fahrkarte für den nächsten Nachtzug kaufe. Scheiß auf den Kognak, scheiß auf die Schokolade der Abteilgenossen. Nach einem Tag wie diesem klappe ich sofort ab. Aber das Herz stöhnt und in der Brust fühlt es sich an wie Muskelkater nach zu viel Sport. Ich liege da, schaue an die Decke und versuche, meine verschiedenen körperlichen und seelischen Leiden zu sortieren. Ich höre das Rattern der Räder, das klingt, als würden sie Nägel in den Sarg dieses Tages schlagen, den ich für 143 Minuten mit dir auf mich genommen habe. Für die Erkenntnis, dass du dir ein breites Kreuz antrainiert hast und ich zugelegt habe.

Die ausgelassene Truppe im Nachbarabteil macht einen Ausflug nach Lwiw. Ihre Unternehmung hat schon begonnen, also bleiben sie bis drei Uhr nachts auf. In der stickigen Luft des Waggons falle ich eher in eine Art Bewusstlosigkeit als in Schlaf – ich krieche und rutsche in etwas Schwarzem, Lehmigem herum, und es schmeckt, als würde eine Blume in meinem Mund sterben. Ein Mädchen aus der Truppe – sie trägt falsche Wimpern und Nägel und kann stolz auf die verführerische Figur einer Stripperin verweisen – hat einen Schlafplatz in meinem Abteil, und als es ans morgendliche Wecken geht, stöhnt sie: „Sascha, warum, Sascha, muss das sein, ich will nicht nach Lwiw. Ich brauche einen Tee, ich brauche eine Bouillon. Sascha, Lwiw hatten wir doch diese Nacht schon.“

Verschreckt tauche ich an der Oberfläche der Wirklichkeit auf und sehe draußen vorm Fenster einen hypnotisch schaukelnden Film – ein flimmerndes bewegliches Grau, hinter dem sich eine Unzahl möglicher Welten verbirgt: da ist die Welt der Erwartungen an die Treffen, und da ist die Wirklichkeit dieser bekloppten, beschissenen Versuche, wenigstens ein paar Stunden glücklich zu sein. Leider dominiert dabei nicht die Leichtigkeit, sondern Unstimmigkeiten, Unausgesprochenes und etwas, das man gar nicht in Worte fassen kann. Ich erwache mit dem Gefühl, dass ich mir alle Körperteile auf dem Abteilboden zusammensuchen und sie neu verschrauben muss. Meine Nachbarin rennt zusammengekrümmt zur Toilette. Statt Bouillon bietet Sascha ihr Joghurt an. Ich stelle mir ihren schrecklichen Kater vor, stelle mir vor, wie sie sich durch die winterkalte Stadt schleppen und sie selbst bei Hitze fröstelt. Sie hängt in seinen Armen und döst in beschwingter Schwäche vor sich hin. Gegen fünf, wenn sie einen ordentlichen Teller Bandera-Suppe gegessen hat, geht’s ihr dann irgendwann besser. Immer wieder lachen sie laut auf, mit diesem typisch verkaterten Lachen, das mit dem zweiten Atemzug nach einem blöden Witz ausbricht, haschen Riesenseifenblasen, posieren in kitschigen UPA- und Kosakenmützen vor Fahnen für Fotos. Schwören im Restaurant „Kryjiwka“, dass sie keine Russenschweine sind, und bestaunen in der Schokoladenmanufaktur einen toten, hohlen Weihnachtsmann, eine Gussform in Menschengröße. Eigentlich beneide ich Leute, die sich diese einfältige Leichtigkeit beim Reisen bewahrt haben. Interessanterweise bleiben dir ausgerechnet die Tage, die du mit Müh und Not durchstehst, ehe du endlich ins Bett kannst, wie Narben und Anker im Gedächtnis, denn sie sind es, die uns lebendig machen, die unterschwellige Übelkeit, die tauben Finger und der Schlafmangel helfen, die Erinnerungen wachzuhalten. Erinnerungen an etwas Wertvolles und Intimes wie das Schreiben der Namen im Schnee.

Ich bin total beeindruckt von dieser jungen Frau, die trotz der Last der letzten Nacht wie eine Nymphe von diesem versifften Trittbrett steigt. Oder besser gesagt wie eine Schaufensterpuppe, denn ein lebendiges Wesen, selbst ein göttliches, ist nicht so perfekt. Nur Schaufensterpuppen sind auf Dauer frei von verräterischen Menstruationsflecken auf der hellen Hosennaht. Die Haare liegen ideal, das Gesicht ist frisch geschminkt, und sie riecht nicht nach Zug, sondern nach einer Parfümerie. Statt mir die Zähne zu putzen und die Haare zu kämmen, werfe ich drei Kaugummis in meinen klebrig-schalen Mund und setze meine Mütze auf.

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