Die Ukrainische Revolution im Stellungskrieg

Die Lage in der Ukraine steckt in einer Sackgasse. Dem Präsidenten und seinen Anhängern ist es nicht gelungen, ihren größten Problemfall, den protestierenden Majdan, loszuwerden, aber auch der Majdan ist bislang mit allen seinen Forderungen gescheitert. Zu Beginn der Weihnachtsferien stand es 0:0, während die Demonstranten in Kiew feierten, flogen viele Regierungsanhänger auf Urlaub nach Europa. Offenbar wollten sie sich ein Bild von den potentiellen Gefahren der Europäischen Union machen, die der Präsident und der Premierminister ihren Wählerinnen und Wählern gegenüber immer wieder mit Vorliebe beschwören. Nach der Euphorie der ersten Revolutionswochen haben sich die Demonstranten auf einen langen Winter und auf Dauerprotest eingestellt. Allen Befürchtungen der Opposition und aller Selbstsicherheit der Regierung zum Trotz gehen die Demonstrationen weiter, wenn auch mit weniger Biss als noch Anfang Dezember. Wohl weiß keiner so genau, was weiter zu tun ist, also machen alle das, wozu sie imstande sind: die Demonstranten belagern die Behörden und die Wohnsitze der Beamten, die Sicherheitskräfte und die dazu gehörigen illegalen bewaffneten Trupps provozieren und erzeugen Druck. Janukowytsch hat sich hier, so scheint es jedenfalls, in den letzten anderthalb Monaten ein Problem geschaffen, dessen er nicht mehr Herr wird. Er hat offensichtlich über viele Prozesse im Land, die er eigentlich steuern müsste, die Kontrolle verloren , obwohl er nach außen versucht, das Gegenteil zu beweisen. Die Kavallerieattacke der Opposition hat bislang noch keinen Sieg davon getragen. Die Ukraine befindet sich im Stellungskrieg.

Freitag, 10. Januar. In Charkiw bereiten Aktivisten das Gesamtukrainische Forum der Euromajdan-Bewegungen vor. Am darauffolgenden Tag wollen Vertreter der Protestbewegungen aus dem ganzen Land zusammenkommen. Die Vorbereitung gleicht einem Versteckspiel: Keine einzige öffentliche Einrichtung der Stadt will den Euromajdan-Vertretern Räumlichkeiten zur Verfügung stellen, der endgültige Veranstaltungsort wird geheim gehalten, ich spare mir die Frage an meine Freunde im Organisationsteam, wo wir uns am nächsten Tag versammeln. Morgen werde ich es schon erfahren, denke ich mir. Die prorussischen und prosowjetischen Verbände in Charkiw wollen den ungebetenen Gästen in offener Aggression gegenübertreten. Befreundete Lehrer rufen mich an und erzählen mir flüsternd, dass die Stadtverwaltung für die Staatsbediensteten – Mitarbeiter aus Schulen, Bibliotheken und Staatsunternehmen – am kommenden Tag eine Zwangsdemo angeordnet hat. Die Rechnung ist einfach: Die Majdan-Vertreter bekommen höchstwahrscheinlich keinen Raum für ihre Veranstaltung und werden versuchen, ihr Treffen einfach auf der Straße abzuhalten, und zwar am Schewtschenko-Denkmal, genau dort, wo seit anderthalb Monaten Abend für Abend die Regierungsgegner stehen. Deswegen sollte der Platz – und am besten ein paar Nebenplätze gleich noch dazu – von Staatsbediensteten als Kanonenfutter besetzt sein. Dass diese hier so ziemlich jeden Platz, egal welcher Größe, zu füllen imstande sind, steht außer Frage. Die Charkiwer Stadtverwaltung hat das System der Zwangsrekrutierung von Untergebenen für Demonstrationen perfektioniert wie nirgends sonst: man droht mit Entlassung, setzt finanzielle Stimuli ein und übt ideologischen Druck aus; der Fairness halber muss man allerdings sagen, dass ein Teil der Charkiwer Einwohner den von Präsident Janukowytsch verkündeten Stabilitätskurs tatsächlich unterstützt, wobei Stabilität für sie in erster Linie heißt, dass das Gehalt regelmäßig gezahlt wird. Besser 200 Euro monatlich vom Staat als 300 Euro, um die man kämpfen muss. Von dem bevorstehenden Wochenende konnte man also einiges erwarten.

Wieso sollte das Forum überhaupt in Charkiw tagen? Die Stadt ist eine Hochburg der Partei der Regionen, sie gilt nach wie vor als eines der wichtigsten intellektuellen Zentren des Landes. Das ist ein Stereotyp, das noch aus Sowjetzeiten stammt, als Charkiw ein bedeutender Wissenschafts- und Hochschulstandort war. Obwohl die Stadt auch heute an die 300.000 Studenten hat, wirkt sich das auf die Widerstandsbereitschaft und den Wunsch nach freiem Denken kaum aus. In den letzten 20 Jahren hat sich das Image der Stadt stark verändert, Kommerz und mehr oder weniger legales Wirtschaftstreiben haben Wissenschaft und Bildung nach und nach verdrängt. Die Studenten haben wenig übrig für den Kampf um gesellschaftliche Veränderungen oder den Bau von Barrikaden, sie kümmern sich lieber um ihre persönliche Zukunft und mischen sich nicht ins „Leben der Erwachsenen“ ein. Charkiw hat keine freien Medien, der gesamte Nachrichtenbereich wird von den Machthabern dominiert, typisch sind aggressive Propaganda und das Verschweigen abweichender Meinungen. Laufend finden Proregierungsdemonstrationen statt, zu denen die Studenten von den Dekanen und Rektoren der Hochschulen zwangsverpflichtet werden. Zugleich ist spürbar, dass die öffentliche Empörung derer wächst, die Veränderungen wollen; Unzufriedenheit der Mittelschicht und der Studenten, die sich nicht von der Partei der Regionen instrumentalisieren lassen wollen, wächst von Tat zu Tag. Die Stadtverwaltung tut so, als gäbe es keinerlei lokale Opposition. Selbst als im letzten Monat Tausende Charkiwer auf die Straße gingen, hat sie sich hartnäckig geweigert, das zur Kenntnis zu nehmen. Auf das Euromajdan-Forum, eine Aktion, die eher symbolisch ist, aber doch weite Kreise ziehen kann, mussten die Verantwortlichen indessen reagieren, sei es auf Anweisung von oben, sei es aus eigener Initiative, und sie beschlossen, ihre Muskeln spielen zu lassen. Dass das mitunter gar nicht so einfach ist, steht auf einem anderen Papier.

Samstag, 11. Januar. Am Morgen gehe ich mit einem Freund die Hauptstraße entlang. Zu beiden Seiten eine Menschenkette, alles ältere Leute. Das Wetter ist grauenvoll, es ist trübe und feucht, jeden Moment kann es anfangen zu regnen. Wir fragen einige Frauen nach ihren Berufen. Bibliothekarinnen, antworten sie. Sie halten ein Plakat mit der Aufschrift „Jugend für Janukowytsch“ hoch. Mit dem Plakat schützen sie sich vor dem Wind. Auf die Frage, warum sie hier stehen, antworten sie: „Charkiw ist sauber, nirgends liegt Müll herum, das finden wir gut.“ Die Staatsangestellten halten schon vom frühen Morgen an den potentiellen Versammlungsplatz der Euromajdan-Anhänger besetzt. Die Veranstalter haben noch in der Nacht eine Bühne aufgebaut, von der nun flotte Musik tönt. Wir gehen weiter zum benachbarten Platz der Verfassung. Dort stehen ebenfalls ein paar hundert Janukowytsch-Anhänger. Für alle Fälle. Damit sich die Oppositionellen nicht womöglich hier versammeln. Aus der U-Bahn kommen immer mehr Gruppen älterer Frauen. Wir fühlen uns wie auf einem Rentnerausflug.

Wir treffen uns mit den anderen Leuten vom Organisationsteam. Der geplante Versammlungsort bleibt weiter geheim, aber meine Bekannten versichern, dass alles bestens sei und es klare Absprachen gebe. Was das betrifft, bin ich skeptisch: Am Abend zuvor hatte es der wichtigste lokale Gegenspieler von Janukowytsch, der Oligarch Olexandr Jaroslawskyj, abgelehnt, uns das Pressezentrum in seinem Hotel zur Verfügung zu stellen. Worauf zählten da Absprachen? Wir gehen raus und wollen zur Stelle, an der die Delegierten registriert werden. Auf der anderen Straßenseite stehen zwei Männer. Als sie uns gesehen haben, greifen sie zum Telefon, setzen sich ins Auto und fahren davon. Diese Beobachter begleiten die Teilnehmer auf Schritt und Tritt, die ganzen zwei Tage lang. Langsam wird es spannend.

An der Registrierstelle werden Euromajdan-Anhänger von jungen Leuten mit sportlicher Figur, angeheuerten Sportlern, die hier die Kämpfer mimen, mit rohen Eiern beworfen. Einige Oppositionelle werden getroffen. An einem anderen Ort werden Euromajdan-Anhänger von Leuten aus einem lokalen Kampfklub bedrängt. Die benehmen sich ziemlich aggressiv, aber es kommt vorerst nicht zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Die Delegierten bekommen von den Organisatoren die Adresse des Veranstaltungsorts und machen sich auf den Weg. Getagt werden soll in einer Charkiwer Berufsschule. Angeblich ist alles abgesprochen. Kaum sind allerdings die Delegierten dort versammelt, als die Leitung der Schule auftaucht und die Anwesenden auffordert, den Raum zu verlassen. Nach längerem Umherirren versammeln sich die Teilnehmer in einer Kirche, die den Oppositionellen einen Raum überlässt. Endlich kann es losgehen. Sofort hat sich draußen eine Gruppe Teenager im Alter zwischen 16 und 18 zusammengefunden, die den Raum stürmen will. Die Wachmannschaft des Euromajdan wehrt den Überfall ab. Die Szene erinnert an das späte Mittelalter: die Belagerung von Festungen und die Zuflucht hinter Kirchenmauern. Zeit der Religionskriege. Dann trifft die Polizei ein und nimmt die Angreifer fest, mit wenig Enthusiasmus allerdings, viele Beteiligte bleiben in den Straßen rings um die Kirche zurück. Aber vorerst behindern sie das Forum nicht. Von der Kirche gehe ich mit ein paar Freunden zu einer Buchhandlung, in der eine Arbeitsgruppe zur zivilgesellschaftlichen Bildung tagen soll. Es sind so um die 50 Leute, vor der Tür wird eine Wachmannschaft installiert. Die Buchhandlung befindet sich im Untergeschoss, auf der Hauptstraße von Charkiw. Ich weise die Wachleute darauf hin, dass es keinen Notausgang gibt; wenn jemand zum Beispiel einen Molotowcocktail wirft, kommt man nur über den Eingang, von dem aus das Geschoss geworfen wurde, raus. In der Diskussion geht es um die Zivilgesellschaft. Ungefähr eine Stunde später hört man am Eingang Schreie und eine zerspringende Scheibe. Jemand versucht durch den Flur in den Raum vorzudringen. Es formiert sich eine Abwehr. Von oben strömt Tränengas herein. Nach kurzen Handgreiflichkeiten ziehen die Angreifer ab. Auf dem Fußboden klebt Blut, einige Schaufenster sind kaputt. Oleh, unser Wachmann, der den Angriff abgewehrt hat, ist verletzt: seine Nase ist gebrochen, ein Auge hat ein riesiges Veilchen. Ungefähr zwei Dutzend Angreifer seien es gewesen, erzählt er. Wegen des Tränengases müssen wir die Buchhandlung verlassen. Wir suchen uns einen anderen Raum, und die Diskussion über die Zivilgesellschaft wird fortgesetzt. Unsere traditionelle Euromajdan-Demo ist an diesem Abend von zwangsverpflichteten Staatsangestellten und Spezialkampfeinheiten umstellt. Man installiert Lautsprecher und Verstärker, um die Reden der Regierungsgegner zu stören. Zwischen den beiden Gruppen steht Miliz. Die Euromajdan-Demonstranten ziehen zur U-Bahn. Ihnen folgt die Miliz, nach der Miliz die Kampfeinheiten, jede Sekunde zum Angriff bereit. Entlang der Strecke, den diese merkwürdige Kolonne zurücklegt, gehen langsam die Straßenlaternen aus.

Was hat Stadtoberen an diesem Forum eigentlich so gestört? Es ist eine zivilgesellschaftliche Initiative, um die Aktionen der Demonstranten in den verschiedenen Landesteilen zu koordinieren. Denn der Majdan ist ja nicht nur ein konkreter Platz in Kiew, auf dem Unzufriedene zusammenkommen. Der Majdan ist in diesen anderthalb Monaten zu einem eigenen Format geworden, so etwas wie seinerzeit die polnische Gewerkschaft Solodarność. Solidarność-Vertreter sind übrigens ebenfalls nach Charkiw gekommen und konnten sich mit eigenen Augen von den Vorteilen der Stabilität überzeugen. Das ist der entscheidende Unterschied zur Orangen Revolution 2004. In Dutzenden von Städten gehen die Leute tagtäglich auf die Straße und demonstrieren. Mancherorts sind das Tausende, anderswo Hunderte, manchmal Einzelne. Aber sie tun es. Tagtäglich. Und sie werden nicht nachlassen, so lange es nötig ist. Auf den ersten Blick sind sie völlig einflusslos. Was können schon vier oder fünf Außenseiter in einem Ort wie Kramatorsk im Donezkbecken ausrichten, die sich Abend für Abend am Schewtschenko-Denkmal treffen? Nichts. Und doch bringen sie die Präsidentenanhänger vor Ort aus dem Konzept. Sie lassen sich nicht entmutigen, obwohl sie Druck und Bedrohungen ausgesetzt sind, obwohl es scheinbar kein konkretes und realistisches Konzept für Veränderungen gibt. Im Zentrum dieser neuen Form von Protest steht keine bestimmte Führungsfigur der Opposition, es geht nicht um diese oder jene Vorlieben innerhalb einer Partei, die Demonstranten fordern den Rücktritt der gegenwärtigen Regierungsspitze als vordergründiges, längst aber nicht letztes Ziel. Es geht ihnen um grundlegende Veränderungen, um Systemveränderungen, um Änderungen im gesamten Land. Das ist eine ganz und gar neue Qualität in den Protesten, die in erster Linie von den zivilgesellschaftlichen Aktivisten ausgehen und die zivilgesellschaftlichen Bewegungen stärken wollen. Außerdem ist die Psychologie der Proteste eine andere. Die Leute, die heute in der Ukraine auf die Straße gehen, erwarten nicht, dass sich alles auf der Stelle ändert. Sie sehen die Situation nüchtern, sie sind auf einen langen Protest eingerichtet. Es geht ihnen nicht darum, dass zum Beispiel morgen der Innenminister oder der Premierminister zurücktritt, die Sache sich damit erledigt hat und sie nach Hause gehen können. Ohne Ergebnis gehen sie nicht nach Hause, und ein Anschieben des Personenkarussells kann nicht als Ergebnis gelten. Zweitens wissen sie ganz genau, dass sie Repressionen zu erwarten haben, wenn sie weggehen; die Repressionen gegen zivilgesellschaftliche Aktivisten sind seit Beginn der Proteste an der Tagesordnung. Hier hilft nur zusammenbleiben. Das sind die Leute, die zu dem Charkiwer Forum gekommen sind. Wegen ihnen haben die Oberen die Nerven verloren. Ich weiß nicht, was der Grund war für diese zweitägige Hatz, eigentlich wäre es viel besser gewesen, die ganze Veranstaltung einfach zu ignorieren, einfach darüber hinwegzugehen. Durch die Gleichschaltung der lokalen Medien hätte ja kaum jemand von dem Treffen erfahren. Aber die Nerven liegen blank, und die Verantwortlichen in der Stadt haben sich für Einschüchterung und Druck. Aber Einschüchterung will auch gekonnt sein.

Sonntag, 12. Januar. Am nächsten Morgen wiederholt sich die ganze Geschichte. Wir gehen geschlossen zu unserem Treffen, zuerst zur Registrierung, dann zur Arbeitsgruppe Rechtssicherheit. Auf der anderen Straßenseite laufen an die zwei Dutzend Kämpfer der Spezialeinheiten. Einen Überfall wagen sie nicht, es sind zu viele Demonstranten, außerdem ist Miliz da. Lustige Schimpftiraden fliegen hin und her. Die Kampftrupps sind nicht so gut vorbereitet auf den Schlagabtausch, sie rufen meisten was mit Nazismus und Euro-Sodom. Das Gebäude, in dem die Sitzung stattfinden soll, wird von einer Euromajdan-Wachtruppe abgeschirmt. Dahinter steht in Reihen die Miliz. Hinter der Miliz die Kampfeinheiten. Langsam trudeln auf dem Hof Gruppen von Staatsangestellten einen und schwenken Fahnen der Partei der Regionen. Kaum hat die Sitzung begonnen, als im ganzen Gebäude der Strom abgeschaltet wird. Was die Delegierten nicht daran hindert, eine Resolution zu verabschieden. In der Resolution geht es um die „Notwendigkeit, die Ursupatoren aus den Machtpositionen zu entfernen“, um die Koordination und Durchführung weiterer gemeinsamer Aktionen, in der Hauptsache aber darum, wie sich der Majdan auf andere Bereiche ausweiten lässt, um die Formierung einer breiten zivilgesellschaftlichen Bewegung also, die auf die Lage im Land Einfluss nehmen kann. Danach wird eine Demonstration beschlossen. Der Ort der Demonstration bleibt bis zuletzt geheim. Dadurch lässt sich etwas Zeit gewinnen, und als die Demonstranten auf dem Platz vor der Juristischen Akademie ankommen, ist er noch leer. Es dauert jedoch keine 20 Minuten, da werden aus anderen Straßen die Staatsangestellten und Kämpfer der Spezialeinheiten herbeigetrieben. Immer mehr Miliz und Spezialeinheiten marschieren auf. Kurze Zeit später fahren zwei Autos mit Lautsprechern vor, und die Oppositionellen werden niedergebrüllt. Niedergebrüllt werden allerdings genauer gesagt die Präsidentenanhänger, denn sie stehen direkt vor den Lautsprechern. Die Situation spitzt sich zu. Junge Männer in Trainingsanzügen bewerfen die Demonstranten mit Molotowcocktails und Knallkörpern, sie versuchen zu verhindern, dass die Opposition Lautsprecher aufbaut. Die Miliz will jemanden festnehmen. Ich stehe mit Freunden am Jaroslaw-Mudryj-Denkmal, die Euromajdan-Demonstranten sprechen von hier aus. Von hier, von dieser erhöhten Stelle aus sieht alles aus wie Aufnahmen für einen Fantasy-Film, die Kampfeinheiten, die Spezialeinheiten, die Revolutionäre, die durch die Straßen ziehen, die einen fliehen, die anderen versuchen aufzuschließen, schwarzer Rauch steigt auf, die Propaganda-Apparate plärren laut und versuchen um jeden Preis alles zu übertönen, und in der Ferne laufen die regierungsloyalen Charkiwer, die vielleicht zum ersten Mal in ihren Leben sehen, wie die Machtinhaber mit Oppositionellen umgehen und vor allem wie sie ihre eigenen Anhänger behandeln. Zwei Tage lang im Regen stehen, zehn Stunden am Stück, am Wochenende, unter strengster Bewachung, mit lauter Musik und Knallkörperdetonationen, jeder versteht eben Stabilität auf seine Weise. Die beiden unversöhnlichen Seiten halten jeder die blaugelbe Fahne hoch und geben damit all den Ereignissen eine absurde und surrealistische Note.
Welches Resümee lässt sich ziehen? Eine attackierte Kirche, eine verwüstete Buchhandlung, ein Gebäude ohne Strom. Oleh, der Wachmann, im Krankenhaus, die Lehrer und Bibliothekare nach Hause zurückgekehrt. Keine Kommentare von Seiten der Charkiwer Stadtverwaltung. Keine Vorwürfe von Seiten der Euroaktivisten, die mit eigenen Augen gesehen haben, womit sie es zu tun haben und wogegen sie kämpfen. Man hat das Gefühl, dass schon lange keiner mehr Angst hat, weder vor der Macht, noch vor der Polizei noch vor den Kriminellen. Man ist konzentriert, man hält zusammen, man ist auf den Kampf eingestellt. Aber Angst gibt es nicht. Etwas passiert in diesem Land, etwas geht mit den Menschen vor sich. Nicht mit allen gleichzeitig, nicht so blitzartig, wie man sich das wünschen würde, aber unaufhaltsam und unumkehrbar. Eine Revolution ist nicht immer die triumphale Präsentation des Tyrannen zu Füßen der Masse. Manchmal beginnt eine Revolution mit unscheinbaren Dingen, die aber nicht weniger wichtig sind, mit Änderungen im Denken, Änderungen im Verhalten, mit einer veränderten Haltung gegenüber sich selbst und gegenüber dem eigenen Land.

Das Beste hat an diesem Abend womöglich Oleh, der Wachmann, gesagt. Gegen zehn Uhr abends sind wir zu ihm ins Krankenhaus gefahren, haben den Diensthabenden gefragt, wo er liegt und wie wir dorthin kommen. Den ganzen Tag lang hatten ihn bekannte und fremde Leute angerufen und ihre Hilfe angeboten. Oleh nahm die Sache ganz philosophisch. Als er all unsere Worte gehört hatte, sagte er: „Ich finde das alles nicht so schlimm. Es kam, wie es kommen musste. Alles ist genau richtig. Und alles wird gut.“ Und keiner von uns hat widersprochen.