Das Trägheitsprinzip

In unserem Fluss gibt es wenig Fische. Eigentlich gibt es inzwischen gar keine mehr, — nachdem sich die ganze Stadt mit den neusten elektronisch-getesteten Importgeräten bewaffnet jahrelang darangemacht hatte, sie alle rauszufischen. Das gelang ihnen in wenigen Monaten; wenn irgendein schüchterner Zander oder ein listiger Hecht sich damals nicht von ihren Hifi-Wobblern verführen ließ wird er jetzt ruhig am Grund stehen bleiben und sich nicht zeigen. Aber einst… In alten Zeiten, aus denen mir schöne Schwarz-Weiß Bilder und Kindheitsträume geblieben sind, war der Fluss voll wie ein Suppentopf oder die Wannen im Fischgeschäft. Damals brauchte man nichts weiter als einer Rute und einem Haken, um etwas herauszuholen. Keiner, der mit einer Angel ans Ufer kam auch wenn er nicht mal wusste, an welchem Ende man sie halten muss, ging ohne einen Hecht nach Hause. Wir kleine Bengel hatten mittelmäßige Angelruten gefunden, bauten Rollen daran und befestigten die hoffnungslosesten Blinker und fingen was! Zehnjährige Jungs, die wir eine herumliegende Perücke entknotet und irgendeinen Angler um einen Ersatzblinker gebeten hatten, standen mitten am Strand, warfen aus und holten die Fische einfach mit den Händen heraus. Solche Zeiten waren das, aber was soll man erst über die morgendliche Wassershow der Karpfen und Brassen mit den schweren Aufplatschern sagen… Das war einmal.

Zu der Zeit, um die es hier geht losgehen in der Zeit um die es hier geht, gibt es wenig Fische. Der Fisch ist wählerisch geworden. Letzten Sommer biss der Hecht an einem schweren, geschuppten “Norytsch”-Blinker, in diesem Bügel des Rollenhalters zurück in diesem auf das Auge einer emaillierten Norwega, von denen insgesamt noch ein oder zwei von meinem Bruder übriggeblieben sind. Wir wohnen schon zwei Wochen am Ufer in einem Spanplattenhaus Rute schwingen und wir werden noch ungefähr zwei Wochen hier wohnen. Vollkommen allein. Wenn die Norwega alle sind, müssen wir wohl mit Lebendködern angeln, oder diese Beschäftigung ganz sein lassen, oder vielleicht eine Plötze mit dem Kopf auf Brot ziehen, so etwas heißt bei uns Verchobsda. Für Köder fahren wir nicht in die Stadt (es ist sowieso verboten, über die Stadt zu reden. Bis man uns abholen kommt, es gibt keine Stadt, sie existiert nicht — und außerdem haben wir kein Geld). Es geht nicht um die Fische.

Manchmal – natürlich nicht öfter als einmal pro Saison, aber hin und wieder schon — beißt ein Raubfisch an den Köder, während dieser noch nach unten abtaucht, wobei er hin und her torkelnde Bewegungen macht; deshalb muss man, bevor man die Schnur aufrollen kann, erst einmal gehörig abrollen. Unser Fluss ist hier acht Meter tief, eine riesige Schlucht, deshalb phantasieren wir gern über sagenhafte Krokodile, die sich auf dem Grund verstecken und hoffen, dass ihnen ein Köder aus dem Himmel vor die Nase fällt. Diese mythischen Geschöpfe reizen immer wieder unser Interesse, indem sie an die Oberfläche kommen und mit ihren Schwänzen schlagen. Wahrscheinlich extra für uns; vielleicht waren das auch die Hechte, also unsere Kunden, aber wir glauben an die Existenz der Krokodile. Es kam schon vor, dass jemand die Riemen aus Metall und Seil zerbiss und die Ruten zerbrach; dass jemand an unserer superfesten Importschnur zurrte und riss; eine unbekannte Kraft das Boot stoppte und es überwarf und musste dann unausweichlich kurz vor unserem Kescher entkommen — ja da musste doch jemand sein!

Bisher hat unser größter Fang zwei Kilo gewogen. Aber es geht ja nicht um die Fische.