Corvus corax Die Krähe

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Herbstzeit ist Fotozeit.

Antonina Wassyliwna hat zwei große Fotoalben auf dem Schoß, über die Knie hat sie eine Decke gebreitet.

Shutschka, ihr unansehnliches, räudiges Hundemädchen, jault vor der Tür. Shutschka will raus, ein Pfützchen machen, aber Antonina Wassyliwna schwelgt in Schwermut.

„Shutschka“, sagt Antonina Wassyliwna, „kannst du denn nicht ein einziges Mal warten? Ich sehe mir Fotos an. Mir ist nach weinen.“

Shutschka jault weiter.

Wann bin ich eigentlich das letzte Mal mit ihr draußen gewesen, überlegt Antonina Wassyliwna. Verdammtes Greisengedächtnis. Gestern? Oder vorgestern? Gestern hatte ich’s im Kreuz, da bin ich bestimmt nicht runter gegangen.

„Also gut“, sagt Antonina Wassyliwna zu Shutschka. „Du hast gewonnen. Komm.“

Antonina Wassyliwna steht auf, und Shutschka wedelt freudig mit ihrem Schwanzrest, zwei Drittel des Schwanzes hatte ihr die Aufzugstür abgeklemmt.

„So eine Gemeinheit“, ruft Antonina Wassyliwna, als sie an die Heizkörper im Wohnzimmer fasst. „Es ist schon November, und sie denken gar nicht dran, die Heizung anzustellen.“

Sie zieht ihren abgewetzten, bordeauxfarbenen Jersey-Übergangsmantel an, der früher einmal ganz in Mode war. Streicht den Polarfuchskragen glatt. Zieht ihre schwarzen Stiefel an, am rechten geht wie immer der Reißverschluss auf.

Ich muss mir unbedingt neue Stiefel kaufen, denkt Antonina Wassyliwna, sonst kann ich bald gar nicht mehr mit Shutschka nach draußen. An der Metrostation Minska hat vor kurzem ein neues Schuhgeschäft eröffnet, Schuhe für 50 Hrywnia heißt der Laden. Antonina Wassyliwna hatte im Schaufenster ein Schild mit bunten Kugeln gesehen, auf dem stand: „Neueröffnung“. Da muss ich mal rein. Wenn’s den Laden schon gibt, sollte man auch mal vorbeischauen.

Im Flur bleibt Antonina Wassyliwna wie angewurzelt stehen und horcht.

Das kann doch nicht wahr sein! Schon wieder?! Das ist doch die Höhe! Die Leute wissen überhaupt nicht mehr, was sich gehört!

„Na, die können was erleben!“, ruft Antonina Wassyliwna. „Shutschka, komm!“

Sie verlässt die Wohnung und fährt mit dem Aufzug ins Erdgeschoss. Shutschka kommt auf der Treppe hinterher.

Hier, im Erdgeschoss, ist die Musik lauter. Antonina Wassyliwna folgt dem Geräusch.

Meine Augen sind vielleicht nicht mehr die besten, aber meine Ohren sind noch intakt, denkt sie. Was die sich rausnehmen, keinen Respekt, die Leute.

In der Wohnung Nummer 6 ist die Tür angelehnt. Antonina Wassyliwna tritt forsch ein. Shutschka trippelt ihr nach.

Denen werde ich zeigen, was eine Disko ist, denkt Antonina Wassyliwna. Da singen sie gleich doppelt so schön!

Die Wohnung ist nicht eingerichtet. Es gibt weder Möbel noch Hausrat. Der Flur und ein Zimmer sind verspiegelt. Das irritiert Antonina Wassyliwna zuerst. Ihr Spiegelbild gefällt ihr nicht.

Was bin ich doch alt und krumm geworden, denkt sie.

Auf dem Fensterbrett steht – voll aufgedreht – ein riesiger Kassettenrekorder. Antonina verzieht das Gesicht, Shutschka stimmt mit einem Kläffen ein.

„Halt den Mund, Shutschka, mir steht’s auch so bis hier!“

Antonina Wassyliwna blickt sich um und sucht nach einem Opfer.

Auf einmal steht eine merkwürdige männliche Gestalt in Seidenhemd und Glitzer vor ihr.

„Um Gottes Willen, was ist denn hier los?“, murmelt Antonina Wassyliwna vor sich hin.

Der Faun starrt den Gast einen Moment lang an, schwebt dann mit einem merkwürdigen Schritt auf den Rekorder zu und stellt ihn leiser.

Der ist schwul, denkt Antonina Wassyliwna, oder schlimmer noch, eine Tunte. Wo bin ich denn hier hingeraten? Der erwürgt mich kurzerhand, wenn’s drauf ankommt, und keiner kriegt was mit.

„Was wollen Sie?“, fragt die Gestalt in Seidenhemd und Glitzer. Der Mann ist ziemlich jung und braungebrannt, wie Antonina Wassyliwna auffällt, die Haare sind gegelt, das Gesicht geschminkt. Hellblaues Seidenhemd mit einer Rüsche über der entblößten Brust, schwarze, weite Hosen mit Zierstreifen, Lackschuhe mit Absatz.

„Junger Mann, warum haben Sie sich denn rausgeputzt wie ein Clown?“, fragt Antonina Wassyliwna wütend, als ginge sie das etwas an.

„Was kümmert Sie das? Was wollen Sie eigentlich hier?“

„Ein bisschen mehr Respekt, bitte!“, erwidert Antonina Wassyliwna. „Wenn Sie mir schon keine Achtung entgegenbringen, dann respektieren Sie wenigstens mein Alter!“

„Ich habe Ihnen nichts getan.“

„Von wegen. Allein von Ihrem Anblick steigt mir die Schamröte ins Gesicht.“

„Ich habe Sie nicht gebeten, mich anzuschauen.“

„Junger Mann, Sie leben hier nicht auf einer einsamen Insel. Auf einer Insel können Sie meinetwegen auch im Rock rumlaufen oder nackt, wenn Ihnen danach ist. Aber hier, wo noch andere Leute sind, ziehen Sie sich doch bitte so an, wie es sich für einen Mann gehört!“

Der junge Mann merkt, dass sich der Konflikt nicht so schnell aus der Welt schaffen lässt, schaltet den Rekorder ganz aus und tritt näher an Antonina Wassyliwna heran.

„Also, verehrte Frau …, was wollen Sie von mir?“

Antonina Wassyliwna. Ich heiße Antonina Wassyliwna.“

„Antonina Wassyliwna, was…”

„Es heißt ‘Antonino Wasyliwno’, so ist die korrekte Anrede im Ukrainischen.”

Der junge Mann reißt sich mühsam zusammen.

„Antonino Wasyliwno! Was wollen Sie von mir?“

Antonina Wassyliwna richtet sich in ihrer ganzen Würde auf, soweit es ihr Alter zulässt.

„Ihre Musik ist zu laut.“

„Aber ich habe ein Recht darauf“, regt sich der junge Mann auf.

„Natürlich haben Sie ein Recht, aber andere haben auch Rechte, vergessen Sie das nicht. Und Ihr Recht, junger Mann, endet da, wo das der anderen anfängt.“

„Jetzt ist Tag, verehrteste Frau, wie war’s noch mal richtig, Frau …?“

„Jetzt machen Sie sich mal nicht über mich lustig. Ich will, dass Sie Ihre dämliche Musik ausmachen.“

„Musik hören ist bis zehn Uhr abends erlaubt.“

„Wenn sie keinen stört.“

„Stört sie Sie denn?“

„Und ob! Sie stört mich und Shutschka auch.“

„Wer ist denn Shutschka?“

„Shutschka ist meine Hündin. Die Musik regt sie auf, sie fängt an zu jaulen. Können Sie sich vorstellen, was in meiner Wohnung los ist, wenn Sie hier andauernd Ihren Rekorder anwerfen?“

Der junge Mann sieht an den Füßen von Antonina Wassyliwna den räudigen schwanzlosen Vierbeiner, eine Mischung aus Schoßhund, Pudel und wohlgepflegtem Straßenköter. Er muss lachen.

„Wüsste nicht, was hier komisch ist“, sagt Antonina Wassyliwna. „Wenn Sie Ihre Kiste weiter aufdrehen, hole ich die Polizei.“

„Die Polizei? Habe ich etwa ein Verbrechen begangen?“

„Ja, Sie stören mich. Sie stören mich beim… Leben.“

Antonina Wassyliwna dreht sich um und will gehen.

„Shutschka! Komm.“

Aber Shutschka ist beschäftigt. Die Musik und das Warten haben ihre Harnblase überstrapaziert.

„Probt die Alte hier den Aufstand!“

Antonina Wassyliwna erspäht durch die Türkette ihren Nachbarn von unten.

„Oho, ganz anderer Aufzug?“, sagt sie, „Jeans und T-Shirt stehen Ihnen auch viel besser.“

„Warum haben Sie die Polizei gerufen?“

„Ich hatte Sie gewarnt. Und ich werde es wieder tun, wenn es nötig sein sollte.“

Der junge Mann seufzt erschöpft.

„Vielleicht können wir uns irgendwie einigen?“

„Glaube ich nicht.“

„Ich brauche die Musik.“

„Ich nicht.“

„Sie verstehen das nicht.“

„Hören Sie mal“, sagt Antonina Wassyliwna. „Es interessiert mich nicht, was Sie da unten in Ihrer Bude treiben. Aber machen Sie das doch bitte in Zukunft leise. Stille ist gut für junge Leute. Wenn es still ist, kann man gut nachdenken. Und Sie denken wahrscheinlich ziemlich selten, wie’s mir scheint.“

Im Türspalt taucht Shutschka auf. Sie kläfft freudig.

„Ihr Witzbild von Hund hat auf mein Parkett gepinkelt“, sagt der junge Mann kraftlos.

„Shutschka ist älter als Sie, dass Sie’s wissen.“

Antonina Wassyliwna schlägt die Tür zu.

Überlegt einen Moment und öffnet erneut.

Der junge Mann steht noch am selben Fleck.

„Ich bin ja nicht neugierig, aber wissen… würde ich es doch gern. Was machen Sie da unten eigentlich?“

„Ich tanze.“

„Sie tanzen?“

„Ich tanze.“

Schweigend kehrt Antonina Wassyliwna in ihre Wohnung zurück.

Verflixt, denkt sie, mein Temperament bringt mich noch ins Grab.

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

Auszug aus: Tanja Maljartschuk. Der gemeine Hase und andere Europäer. Berlin: Edition. Fototapeta, 2014. Erscheint im November 2014.