Kontext

Jurij Wynnytschuk (Vynnyčuk): Zur Entstehung des Romans „Die Schlüssel Marias“.

Alles begann, als Andrej und ich uns im Spaß verabredeten, dass wir uns gegenseitig in unseren Romanen auftreten lassen. Andrej baute mich zuerst in seinem Roman „Jimmy Hendrix kam nur bis Lviv“ ein und ich revanchierte mich im Roman „Im Schatten der Mohnblüte“. Danach überlegten wir uns, dass wir doch gemeinsam etwas schreiben könnten. Dem Verleger gefiel die Idee und im Frühjahr 2013 organisierte er uns einen zweiwöchigen Ausflug auf die Krym in einem der dortigen Sanatorien. In Symferopol empfing uns der damalige Vorsitzende des Krym-Rats Vladimir Konstantinov. Er beäugte mich etwas misstrauisch, denn ich hatte kurz zuvor das Gedicht verfasst „Erschlagt den Päderasten!“ (lies: Erschlagt das Arschloch, es galt dem damaligen ukrainischen Präsidenten Janokovyč). Noch am gleichen Tag sollte in der Universität eine Lesung stattfinden, doch meine Bücher wurden absichtlich nicht geliefert. Der Verleger sorgte für einen handfesten Skandal und gegen Ende des Abends trafen die Bücher doch noch ein.

Wir machten auf der Krym Urlaub, arbeiteten an unseren eigenen Projekten und für unseren Roman kristallisierte sich die Idee heraus, dass er biblische Themen und Motive aufgreifen und im Jahr 1111 beginnen solle. Allerdings begannen wir damals noch nicht mit der Arbeit daran.

Im Jahr darauf organisierte unser Verleger einen Aufenthalt in den Karpaten, aber auch dort arbeitete jeder an allem Möglichen nur nicht an dem gemeinsamen Roman. Außerdem nahm uns der Bezirksvorsteher unter seine Fittiche und so saßen wir nie auf dem Trockenen. Wieder ein Jahr später verfrachtete uns unser Verleger abermals in die Karpaten, diesmal in ein abgelegenes Dorf namens Krasnosillja, damit wir unseren gemeinsamen Roman ausarbeiten könnten. Doch auch hier schrieben wir nur an unseren eigenen Projekten. Und auch der Bezirksvorsteher hat uns dort ausfindig gemacht.

Im Jahr 2018 fanden wir uns im Winter in einem abseits gelegenen Dorf hoch in den Karpaten wieder, wo es keine Straßen gab, dafür Schnee bis zur Hüfte. Da begannen wir ganz konkret das Sujet zu besprechen und einen Arbeitsplan zu erstellen.

Weil wir beschlossen hatten, dass der Roman im Jahr 1111 beginnen solle, informierte ich mich, was alles in diesem Jahr passiert war, und das gefiel mir sehr. So tauchten die ersten galizischen Kreuzritter auf, die an der „Befreiung“ des heiligen Grabs in Jerusalem teilnahmen sowie das mysteriöse Mädchen Maria, das vom Papst verfolgt wird. Des Weiteren beschrieb ich die Zeit von 1939 bis 1941 in Lviv und Krakau, der Wirkungsstätte meiner Helden. Es handelt sich dabei um einen Geschichtsprofessor, der ein uraltes Manuskript entziffert, das er vom sowjetischen Geheimdienst NKVD erhielt, seinen Sohn, der aus Lviv in das von Deutschen besetzte Krakau geflüchtet war, da er sich dort sicherer wähnte, sowie das geheimnisvolle Mädchen Aretha, die übernatürliche Fähigkeiten besitzt.

Andrejs Handlungsstrang entfaltet sich im heutigen Kyjiv und dann in Griechenland. Auch in seinem Teil taucht ein geheimnisvolles Mädchen auf. All die Handlungsfäden kreuzen und verflechten sich. Dabei besteht die zentrale Idee darin, dass sich die Jungfrau Maria im Laufe der Geschichte in verschiedenen Erscheinungen, Personen manifestiert, wie z.B. in Jeanne d’Arc. Eine „ewige Jungfrau“, ewig jung und ewig wiedergeboren, findet sich ja wirklich in den Mythologien und Religionen verschiedenster Völker. Zudem gibt es noch die Legenden über die Milch Marias, die für ein Heil- und Wundermittel gehalten und in mehreren Kathedralen aufbewahrt wird.

Im Roman heißt es: „Die Jungfrau wird einen Wächter suchen und ihn an jenem Tag finden, an dem er gebraucht wird. Doch weder Jungfrau noch Wächter wissen, wer sie selbst sind. Ein verborgener Geist leitet sie ans Ziel, sagt ihnen, was sie machen sollen und wo Gefahr lauert. Wer auch immer sich des Rätsels Lösung nähert, wo und wie die Jungfrau zu finden sei, riskiert sein Leben, denn die Jungfrau ist nicht nur barmherzig, sondern auch grausam und gewissenlos.“

NKVD und Gestapo sind gleichermaßen hinter diesem geheimnisvollen Mädchen her, denn die einen wie die andern hoffen, ihre Armeen mittels Marias Milch unbesiegbar zu machen. Die Handlung ist also ziemlich verwickelt und mit vielen Abenteuern gespickt.

Das Schreiben ging schnell voran. Andrej kam dann noch mehrere Tage zu mir, um die Sujets und Untersujets festzulegen. Wir korrigierten gegenseitig unsere jeweiligen Textteile, um Widersprüche auszuräumen, fügten auch noch einige Details ein, die in unser beider Teile zur Sprache kommen. Schließlich begannen wir damit, die einzelnen Stücke zusammenzusetzen, wobei wir darauf achteten, dass sie nicht zu umfangreich gerieten. Ich verfasste meine Abschnitte auf Ukrainisch und Andrej auf Russisch. Danach übersetzen wir uns gegenseitig und versuchten auch damit unsere Texte stilistisch anzunähern.