Kontext

Jurij Wynnytschuk – Geschichtenerzähler und literarischer Hooligan

Das literarische Schaffen von Jurij Wynnytschuk ist vielfältig und umfasst Prosatexte mit Romanen und Erzählungen, Theaterstücke, Lyrik, populäre Bearbeitungen von Sagen, Legenden, Märchen, außerdem Anthologien fantastischer und Horrorliteratur, aber auch mehrere Bücher mit Texten verfolgter und vom Sowjetregime ermordeter Autorinnen und Autoren sowie zahlreiche journalistische Arbeiten. Insbesondere mit seiner Prosa ist er seit den 1980er Jahren als Samizdat- und Underground-Autor fester Bestandteil einer alternativen, nicht soz-realistischen Literatur der Ukraine. Seit den 1990ern ist er der markanteste Vertreter der galizischen resp. Lemberger Literatur, der (selbst-) ironisch und oft provokant Geschichte, Gesellschaft und Erinnerungskultur der Ukraine, insbesondere der Westukraine und Lembergs reflektiert. Dabei nimmt er kein Blatt vor den Mund, was ihm bereits den Besuch der Polizei wegen „Präsidentenbeleidigung“ einbrachte; auch vor literarischen Mystifikationen schreckt er nicht zurück – womit er durchaus erfolgreich ist.

Wynnytschuk wurde 1952 in Stanislaw, heute Iwano-Frankiwsk (in den westukrainischen Vorkarpaten) geboren. Seine Biographie während der Sowjetzeit ist nach eigenen Aussagen durch seinen familiären Hintergrund geprägt. Wynnytschuks Vater war Arzt, der westukrainische Partisanen betreute, die nach dem 2. Weltkrieg gegen die Eingliederung der Westukraine in die Sowjetunion kämpften. Sein Onkel war ebenfalls im antisowjetischen Widerstand aktiv und wurde 1941 vom sowjetischen Geheimdienst erschossen. Zu Ehren dieses Onkels erhielt er laut eigener Aussage dessen Vornamen Jurij.

Nach seinem Studienabschluss 1973 am Pädagogischen Institut in Iwano-Frankiwsk begann er als Journalist in lokalen Tageszeitungen. Diese Tätigkeit lenkte die Aufmerksamkeit des KGB auf ihn und 1974 erfolgte die erste Hausdurchsuchung. Um weiteren Nachforschungen der KGB-Filiale vor Ort zu entgehen, siedelte Wynnytschuk nach Lwiw/ Lemberg über. Dort lebte er anfangs illegal in den Wohnungen von Freunden, Bekannten und Verwandten, wobei er als Vorsichtsmaßnahme gegen überraschende Razzien seine Manuskripte stets in einem Koffer mit sich führte – was ihm den Spitznamen „Koffer-Jurko“ einbrachte. Seinen Lebensunterhalt fristete er durch Hilfsarbeiten als Möbelpacker, Kulissenschieber in Theatern, Museen etc. Schließlich absolvierte er verspätet seinen Militärdienst im fernen Moskau und Charkiw. Über seine Abenteuer in der Sowjetarmee erzählt er in Art des braven Soldaten Schwejks, auf den er sich explizit im zweiten Teil seines autofiktionalen Romans Hruši v tisti (Birnen im Teig) mit dem Titel Die Abenteuer eines neuzeitlichen Schwejks bezieht.

Nach seiner Entlassung tauchte er Ende der 1970er in die Halbwelt Lembergs mit seinen nächtlichen Etablissements ein, in denen Prostituierte, Schwarzmarkthändler, Schmuggler etc. verkehrten. Dieses ihm vertraute Milieu bildet den Hintergrund seines unterhaltsamen ersten Romans Divy noči (Diven der Nacht), der – wie die meisten Texte Wynnytschuks – erst Anfang der 1990er Jahre, nach dem Zerfall der Sowjetunion, erscheinen konnte.

Zu Beginn der 1980er Jahre erhielt er die Erlaubnis als Übersetzer und Literaturkritiker zu publizieren. So veröffentlichte er neben literaturkritischen Artikeln zahlreiche Übersetzungen (aus dem Tschechischen, Polnischen, Russischen, Bulgarischen), oft unter Pseudonymen. Im Freundeskreis veranstaltete er in Privatwohnungen Lesungen seiner aus Zensurgründen nicht publizierbaren Prosatexte und Lyrik. Gegen Ende der Glasnost-Perestrojka-Zeit war er Mitbegründer und Mitwirkender des populären satirischen Theaters resp. Kabaretts Ne zhurys’! (Nicht jammern! / 1987-90).

Seit Beginn der 1990er Jahre arbeitet Wynnytschuk mit verschiedenen Lemberger Zeitungen und Zeitschriften zusammen, so mit Post-Postup (übersetzt in etwa: Nach-dem-Fortschritt) und als Chefredakteur einer erotisch-satirischen Zeitschrift Hulvisa (Der Rumtreiber). Er verfasste zahlreiche, z.T. mystifizierende Texte und Bücher über Lemberg, z.B. die populären Anthologien Lemberger Legenden, Lemberger Kneipen, Die Geheimnisse des Lemberger Kaffees oder den Roman Im Schatten der Mohnblüte. In dem Zusammenhang wurde er von der Literaturwissenschaft als eine Art Popularisator und Schöpfer eines „Lemberger Stadttexts“ und einer Lemberger Mythologie bezeichnet. Das Spiel mit literarischen Texten und ihrer Verbreitung trieb Wynnytschuk so weit, dass er Mitte der 1980er Jahre einen Paralleltext zum berühmten altostslawischen Igorlied verfasste (dessen Authentizität im Übrigen von wissenschaftlicher Seite angezweifelt wird). In dem angeblich mittelalterlichen Text mit dem vielsagenden Titel Plač nad Hradom Kyja (Klagegesang über die Burg von Kyj) wird aus Sicht des altirischen Mönchs Riangabat die Eroberung Kyjiws durch die Mongolen 1248 in ukrainischer Übersetzung wiedergegeben. Der Text wurde in den offiziellen Literaturzeitschriften Literaturna Ukrajina (1982) und Žovten’ (‚Oktober‘ 1984) veröffentlicht und in der Folge sogar in akademischen Publikationen als authentisch erachtet (siehe den Eintrag zur altirischen Literatur in Ukrajins’ka Literaturna Encyklopedija 1996).

Auf ähnliche Weise lancierte er das skandalöse Tagebuch der ukrainischen Nationalheldin Roksolana als Fortsetzungsgeschichte in der Zeitung Post-Postup. Darin schildert Roksolana freizügig ihre Erlebnisse als Haremsfrau am Hofe von Sultan Suleiman dem Großen (des Belagerers von Wien). Das Tagebuch stammte angeblich aus dem 16. Jahrhundert und wurde später unter Wynnytschuks Namen mit dem Titel Žyttja haremnoje (Das Leben im Harem) in Buchform publiziert und erlebte mehrere Auflagen. Darüber hinaus gibt es in den zahlreichen Anthologien, die Wynnytschuk zusammenstellte, noch weitere Mystifikationen. Sein nicht immer leicht zu durchschauendes literarisches Spiel brachte ihm nicht nur Freunde ein und besonders für seinen freizügigen Umgang mit Quellen wurde er kritisiert; Plagiatsvorwürfe erwiesen sich freilich als unbegründet. Eine wenig bekannte und zugleich eine Sonderstellung nehmen in seinem Werk mehrere akribisch recherchierte und kompetent zusammengestellte Textsammlungen von Autorinnen und Autoren ein, die dem Sowjetregime zum Opfer fielen.

Anfang der 1990er Jahre erschienen seine Erzählungen aus den 1980ern in den Bänden Chi-chi-i (Hi-hi-i), Spalach (Das Funkeln) und Vikna zastihloho času (Die Fenster der gefrorenen Zeit). Die Kurzprosa ist meist im spätimperialen Milieu der zerfallenden Sowjetunion angesiedelt, deren Erbe auch in der posttotalitären Ukraine weiterwirkt. Diese Texte sind allerfeinste Kurzprosa, die sich durch einen scharfen gesellschaftskritischen Blick auf das sowjetische Spießertum und eine spitze Feder auszeichnen. Im Jahr 2002 erschienen der umfangreiche Roman Mal’va Landa (Der Romantitel trägt den Namen der Heldin) und 2006 Vesjani ihry (Frühlingsspiele), für die Vynnyčuk mehrere Preise erhielt. Es folgten zahlreiche weitere z.T. preisgekrönte Romane wie Tango smerti (Dt. Im Schatten der Mohnblüte), der u.a. als erster ukrainischer Roman nach 1990 die Shoa in der Ukraine resp. in Lemberg eingehend thematisiert; mit der Autofiktion Birnen im Teig kehrte der Autor noch einmal in den sowjetukrainischen Underground und die Lemberger literarischen Dissidentenkreise der 1970er und 80er Jahre zurück. Dieses Buch vermittelt auf gut informierte Weise und als spannende Erzählung die erdrückende Atmosphäre der „Stagnationsära“ in einem intellektuellen Detektivspiel und einer Reflexion der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Widerstand gegen die Sowjetherrschaft.

In den letzten fünfzehn Jahren entstand historische Prosa, Romane mit starken Elementen von Detektivgeschichte, Mystery-Thriller und Gesellschaftssatire, wobei der vorläufig letzte Roman Ključi Mariji (Die Schlüssel Marias), erschienen 2020 gemeinsam mit Andrej Kurkow verfasst wurde.

Einen eigenen Bereich stellen mehrere Kinder- und Jugendbücher dar, v.a. der erfolgreiche und prämierte Roman Misce dlja drakona (K/ein Platz für einen Drachen), der auch für Erwachsene sehr unterhaltsam zu lesen ist mit seiner Parabel auf die Verselbstständigung politischer Machtstrukturen, denen das Individuum trotz allen guten Willens hilflos gegenübersteht; zuletzt erschienen u.a. 2005 in diesem Genre ein ansprechend illustrierter Band Istorija odnoho porosjatka (Die Geschichte eines Schweinchens) und 2018 ein gereimtes Märchen.

Die Bandbreite der literarischen und journalistischen Aktivitäten schlägt sich im literarischen Werk mit einer breiten Palette stilistischer Verfahren nieder. Als gemeinsamen Nenner seiner Prosa lassen sich eine gründliche Recherche der Fakten (v.a. der historischen Prosa) nennen sowie dynamische Plotstrukturen mit Elementen aus fantastischen, Abenteuer- und Detektivgeschichten, gespickt mit oft ziemlich derbem, auch schwarzem Humor oder beißender Ironie, die obszöne Darstellungen, Erotik, aber auch sexistische Anspielungen nicht scheuen – was bestimmt nicht jedermanns Geschmack ist. Möchte man einen Vergleich bemühen, lässt sich Wynnytschuks Prosa mit Bohumil Hrabals Texten (z.B. mit dem Roman Ich habe den englischen König bedient) vergleichen, und sicher ist Wynnytschuk nicht zufällig ein kongenialer Übersetzer von Hrabal ins Ukrainische.

Im Jahr 2003 erschien der Roman Mal’va Landa, der in rascher Folge mehrere Auflagen und Auszeichnungen erhielt. Der Roman verknüpft auf unterhaltsame Weise die Vielfalt der fantastischen, grotesken und karnevalesken Verfahren mit all der Ironie und dem Witz seiner früheren Texte und überführt sie in eine grandiose epische Erzählung. Inwieweit der titelgebende Name der Protagonistin des Roman Malwa Landa – die freilich selbst nie auftaucht und stets, huschhusch, gerade den Ort der Handlung verlassen hat, kurz bevor der Held eintrifft – ob dieser Name nun eine Anspielung auf Malva Nojevna Landa, 1918 (Odessa) bis 2019 (Haifa), eine sowjetische Geologin und bekannte Menschenrechtlerin sein soll, bleibt unklar. Jedenfalls wurde Wynnytschuk z.T. heftig kritisiert, ihren Namen in unangemessener Weise verwendet, ja beschmutzt zu haben. Der Autor selbst beschreibt im schon erwähnten autofiktionalen Roman Birnen im Teig, dass er sich in seiner Jugend eine vergessenen Lemberger Dichterin der Jugendstilzeit gleichen Namens zusammenfantasiert habe.

Der Held des Romans, vom dem nur der Nachname Bumbljakewytsch bekannt ist, sucht die geheimnisvolle und natürlich wunderschöne Malwa Landa in einer mindestens ebenso geheimnisvollen Welt: in der Welt der zentralen Lemberger Müllkippe. Dieser Kosmos des Kultur- und Zivilisationsmülls birgt traumhafte, surreale Parallelwelten und ist selbstverständlich auch der sprichwörtliche Müllhaufen der Geschichte, der Schrottplatz für das Recycling von Ideologien. Damit ist dieser Müllhaufen an sich nichts Negatives, sondern der Ort, an dem Träume wahr werden. Und diese Träume werden im Laufe der Erzählung realisiert, ironisch hinterfragt und parodiert wie zum Beispiel der romantisch verbrämte ukrainische Patriotismus, etwa wenn über die Zubereitung des einzig wahren und wahrhaftigen ukrainischen Borschtsch gestritten wird, einer Art Zaubertrank der ukrainischen Kosaken. In dem Zusammenhang wird man dann auch gleich aufgeklärt, dass die aus dem altslawischen Igorlied bekannten Polowzer, keine Asiaten, sondern Europäer und direkte Vorfahren der Ukrainer seien. Darüber hinaus erfährt man aus der Unterhaltung des Magister Dschawalo mit Herrn Zen – eine Figur der galizischen Folklore, dass dieser Müllberg das Zentrum des ukrainischen nation buildings ist und eine über die Ukraine hinaus gehende Mission hat: Er ist nämlich Koordinationszentrum der revolutionären Bewegungen aller unterdrückten Völker der Welt. Zugleich fällt der Müllhalde die Aufgabe zu, Wiege einer neuen Zivilisation, des „Großen Weltmüllbergs“ zu sein. Überhaupt ist die Ironie gegenüber allen ukrainisch traditionalistisch angestaubten Ideen, nationalistischen einerseits und sowjetischen Idolen und Dingen anderseits, durchgängig. Die entsprechenden galizisch-habsburgischen, ukrainischen, sowjetischen Erinnerungskulturen werden zerlegt, sehr anschaulich in den Ausführungen zum Borschtsch oder über die „Müllbergliteratur“ und ihre Klassiker. In dieser Hinsicht ist die Episode mit Trankwilion Pups ein Meisterstück, im dem auf spielerische Art die ukrainische Literatur der 1920er Jahre mit ihren ästhetisch anspruchsvollen Texten als eine Art literarisches Quiz präsentiert und zugleich das tragische Schicksal der Autoren thematisiert wird, die der stalinschen Vernichtungsmaschinerie zum Opfer fielen.

Der gewaltig-grandiose Müllhaufen, der an ein Labyrinth unbrauchbarer Ding- und vor allem Gedankenwelten erinnert hat seinen eigenen Zeitlauf und so tickt die Uhr hier viel langsamer, Personen und Dinge bleiben über Jahrzehnte kaum verändert erhalten. Er besitzt eigene Gesetzmäßigkeiten, die sich mit den realen Gegebenheiten „draußen“ außerhalb der Müllkippe kaum überschneiden. So erfährt der Romanheld Bumbljakewytsch auch eine wesenhafte Wandlung, als er sich auf eine Reise mit einem Spezialauftrag durch die Müllwelt einlässt. Im Auftrag der Gräfin von Schraubnziecher soll er Malwa Landa retten. Er macht sich auf den Weg zuerst über das mystisch ukrainische „Borschtsch“-Meer. Dort verliert er jedoch seine Mannschaft und seine Verlobte auf ziemlich bestialische Weise, erleidet Schiffbruch und gerät schließlich in das Städtchen S., eine Region der Müllhalde, die die „gute alte” Habsburger Zeit wieder auferstehen lässt. Die Menschen meinen tatsächlich zu Zeiten des Kaisers Franz Joseph zu leben, in Wirklichkeit handelt es sich jedoch um eine teuflische KGB-Intrige. Dieser Teil des Romans stellt eine Satire mit deutlich dystopischen Zügen dar. In der Kleinstast S gibt Herr Linder, der zugleich Bürgermeister, oberster Richter und Henker ist, den Ton an. Er hat die Stadt von der übrigen Welt abgeschottet mittels einer Illusionstechnologie, an die die Bewohner glauben (müssen). Jedenfalls führt jede Zuwiderhandlung zu strenger Strafe. Dabei verfängt sich der Produzent der Illusion und Manipulation, Herr Linder, selbst in diesem Netz virtueller Realitäten. Anspielungen an mediale Manipulation, „Technologien zum Verfertigen von Wahrheit“ (Ulich Schmid) einschließlich der Antizipation heutiger fake news drängen sich auf.

Und so geht es weiter, der Held erlebt verschiedene halsbrecherische und erotische Abenteuer, wird in Intrigen verstrickt und bewegt sich durch fantastische und groteske Welten. Mit Zitron, seinem neuen Kumpel kehrt er von der Müllhalde einmal in die Stadt Lemberg zurück. Dort stellen beide fest, dass während der kurzen Zeit ihres Aufenthalts in den Müllbergen in der realen Welt bereits mehrere Jahre verstrichen sind. Die beiden kehren auf die Müllhalde zurück und machen sich auf die Suche nach dem Schloss der Gräfin von Schraubnziecher. Es stellt sich freilich heraus, dass das Schloss und die Geschichte darum herum mit dem adeligen Schraubnziechern und Malwa Landa bereits zur Legende geworden sind. Malwa Landa wurde sogar eine Gedenkstätte errichtet und man feiert ihr, der unsterblichen Dichterin, zu Ehren Feste. Malwa Landa erscheint dabei als Inbegriff der Literatur überhaupt, ein Wesen, über das wie bei einem Geist alle sprechen, das aber noch nie jemand erblickt hat.

So wird eine karnevalistische WeltUNordnung inszeniert, die sich in der ukrainischen Literatur der 1990er und 2000er Jahre auch in Werken anderer Autorinnen und Autoren findet, prominent zum Beispiel bei Jurij Andruchowytsch, der sich explizit auf den Theoretiker des „literarischen Karnevals“ Michail Bachtin bezieht. In Malwa Landa wiederum finden sich zahlreiche intertextuelle Verknüpfungen mit dem Prätext des literarischen Karnevals, der Prosa Gargantua und Pantagruel von François Rabelais: zum Beispiel in der demonstrativen Auflösung von Hierarchien, Sakrales und Profanes wird in unmittelbare Beziehung zueinander gesetzt sowohl im Dargestellten als auch mit den darstellenden Mitteln, äußerst zugespitzt treten diese Momente in der Comedia sacra auf, zum Beispiel in der Episode im Stammschloss der Schraubnziechers, als schwarze Magie praktiziert wird und auch noch Vampire auftauchen.

Damit das alles nicht zu viel wird, die ganze literarische Inszenierung vergnüglich und ästhetisch anspruchsvoll bleibt, kommt Wynnytschuk sein Geschick und seine Erfahrung mit Dosierung und Anwendung von Verfahren der Populärliteratur zugute. Daneben balanciert seine virtuose Sprachbeherrschung und soziolinguale Kompetenz, mit der er urbane Topoi des Marktplatzes, der Gosse und der Paläste samt ihrer Sprachverwendung präsentiert, erzählerischen Nonsens aus.

In eine andere Parallelwelt entführt Wynnytschuks Roman Todestango, der von mir mit dem Titel Im Schatten der Mohnblüte übersetzt wurde. Der ukrainische wie auch der deutsche Titel ist intertextuell verknüpft mit dem Werk von Paul Celan und der Shoa. Todestango lautete der ursprüngliche Titel von Paul Celans zwischen 1944 und 1945 entstandenen Gedicht Todesfuge in der rumänischen Erstveröffentlichung. Das Gedicht erschien dann in der Gedichtsammlung Mohn und Gedächtnis ein zweites Mal unter dem Titel Todesfuge. Der Todestango nimmt Bezug auf die dokumentierte Praxis in verschiedenen KZs, dass ein Häftlingsorchester beim Ein- und Ausrücken zu Arbeitseinsätzen, bei Festivitäten der Lagerleitung sowie bei Selektion und Ausführung von Massenerschießungen aufspielte. So ein Orchester taucht zum Beispiel in dem TV-Vierteiler „Holocaust“ auf. Wynnytschuk nimmt diesen letztgenannten Aspekt des Häftlingsorchesters als Ausgangspunkt seiner fast kabbalistischen Idee zur Seelenwanderung: Wer den Todestango kurz vor seinem Tod hört, dessen Seele kann später unter bestimmten Voraussetzungen in einem anderen Körper wieder erwachen. Was tatsächlich geschieht und so begegnen sich im heutigen Lemberg seelenverwandte Menschen verschiedenster Epochen „im Schatten der Mohnblüte“.

Als weiterer thematischer Kreis wird die sowjetische Besetzung Lembergs zwischen 1939 und 1941 sowie die Eingliederung Galiziens in die Sowjetukraine thematisiert. Mit seinen Figuren und anekdotenhaften Geschichten aus dem multiethnischen Lemberg der Zwischenkriegszeit und der wechselnden Okkupationsregime von Sowjets und Nazis nach 1939 ist der Roman auch Teil eines neuen ukrainischen Erinnerungsdiskurses in der Literatur, der mit seinen counter narratives Tabuthemen und Traumata der mittel- und osteuropäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts aufgreift. Damit werden bisher vorherrschende weiße Flecke oder Leerstellen der Erinnerung, z.B. das Schweigen über die Judenverfolgung und deren Kontexte in Lemberg zur Sprache gebracht. Er ist in dieser Hinsicht vergleichbar mit den ebenso intensiv diskutierten Romanen Solodka Darusja (Darina, die Süße) von Maria Matios oder Oksana Sabuschkos opus magnum Muzej pokynutych sekretiv (Das Museum der vergessenen Geheimnisse), in denen die Gewaltregime des 20. Jahrhunderts in Familiengeschichten breiten Raum einnehmen.

Der Roman ist zugleich eine Fortsetzung der phantastisch literarischen Welt von Malwa Landa und außerdem eine Hommage an die Weltliteratur, u.a. mit der Inszenierung einer Bibliothek von Babel, gespickt mit zahlreichen Allusionen. Wynnytschuk fabuliert dabei eine fantastische Binnenerzählung in Anlehnung an Borges mit dem Motiv einer Weltreise in eine unendliche Bibliothek zusammen. Doch auch lebende Freunde kommen im Roman vor: So bringt der bekannte Gegenwartsautor Andrej Kurkow den Romanhelden auf eine wichtige Spur. Wynnytschuk setzt hier ein Spiel fort, dass Kurkow in seinem Lemberg-Roman Jimmy Hendrix live in Lemberg begonnen hatte und nun im gemeinsamen Roman der beiden Autoren eine spannende und unterhaltsame Fortsetzung findet; mehr dazu in den Ausführungen von Kurkow und Wynnytschuk im Anhang.

Die Romanhandlung des Todestango / Im Schatten der Mohnblüte hat zwei Handlungsstränge: Einen historischen, der die 1930er und 1940er Jahre, d.h. das polyethnische Lemberg sowie den Zweiten Weltkrieg, Shoa und Sowjetbesatzung, umfasst, daneben gibt es einen gegenwärtigen Handlungsstrang, der in den 1980er Jahren beginnt, den Zerfall der Sowjetunion und die ersten Jahre der unabhängigen Ukraine nachzeichnet und zu Beginn der 2010er Jahre ausläuft. In der zweiten Hälfte des Romans verflechten sich beide Handlungsstränge mit fortschreitender Entwicklung des Sujets sehr unterhaltsam, wobei der geheimnisvolle Todestango als dynamisches Element die Verflechtung vorantreibt.

Im ersten Handlungsstrang stehen die Erlebnisse von vier Freunden im Vordergrund. Bei den vier Protagonisten handelt es sich um einen Ukrainer, einen Polen, einen Deutschen und einen Juden. Erzählt wird aus der Perspektive des Ukrainers mit einem Ich-Erzähler. Die jugendlichen Helden verbindet u.a. das Schicksal ihrer Väter, die als Soldaten der Ukrainischen Volksrepublik (1918-21) von den Bolschewiken erschossen wurden.

Die relativ unbeschwerte Jugend des Quartetts wird in anekdotenhaften und idyllischen Episoden im Stil eines Bohumil Hrabal dargestellt. 1939 kommt es mit dem Hitler-Stalin-Pakt und der Besetzung Lembergs durch die Rote Armee zu einer Zeitenwende und auch der Erzählstil ändert sich. Die weitere Erzählung der Ereignisse im Zusammenhang mit dem Terror der wechselnden Okkupationsregime (des bolschewistischen und nationalsozialistischen) und dem ukrainischen Widerstand, die ethnischen Säuberungen, insbesondere die Shoa und der Horror des Janowska-KZs in Lemberg werden in einem realistischen Erzählstil dargestellt, wobei die hier weiterhin eingestreuten anekdotenhaften Episoden nun eher grotesk absurden Charakter annehmen (und z.T. an Jaroslav Hašeks Abenteuer des braven Soldaten Schwejk im Weltkrieg erinnern).

Die vier Freunde schließen sich dem ukrainischen Widerstand an, nehmen an den Kämpfen um die Stadt teil, kämpfen schließlich als westukrainische Partisanen gegen die Sowjets, wobei nur der Jude Josyp Milkner überlebt. Mit seiner Person wird auch eine Brücke in die Gegenwart geschlagen, in der das Motiv des Todestangos und seines Geheimnisses durch den Protagonisten Jarosch gelüftet wird.
Im Gegenwartsstrang mit dem Hauptprotagonisten Jarosch werden Elemente aus den Genres „Detektivgeschichte” und „Mystery-Thriller” mit der Rekonstruktion des historischen Gedächtnisses der Stadt Lemberg kombiniert. Dabei stellt sich die Frage, an was und vor allem wie man sich an die vergessenen oder auch tabuisierten Geschichte Lembergs erinnert. Die Musik fungiert dabei als eine Gedächtnismetapher, und die Rekonstruktion der Melodie des Todestangos ist auch eine Rekonstruktion der Erinnerung an die Zwischenkriegszeit und den Zweiten Weltkrieg. Wegen der Bedrohung, die durch das Erwachen aus dem „kollektiven Vergessen“ erwachsen könnte, wenn sich die Menschen zu erinnern beginnen, interessieren sich auch die Geheimdienste und die postsowjetische Politik für den Todestango. Der Roman ist übrigens ziemlich genau ein Jahr vor der Majdan-Revolution (2013/14) erschienen und man könnte ihm im Hinblick auf das Erwachen der Erinnerung und der Folgen für Gesellschaft und Politik der Ukraine fast prophetische Eigenschaften zubilligen.
Wynnytschuks Roman erzählt entgegen geläufiger, oft klischeehafter Darstellung der Ukrainer eine „andere“ Geschichte, die bewusst provoziert. Es handelt sich hier um Literatur, die im Modus der Fiktion eine historische Erinnerung rekonstruiert. Romane wie Im Schatten der Mohnblüte tragen dazu bei, historische Fakten zu veranschaulichen und Verknüpfungen mit der Gegenwart zu ermöglichen, die die selbstgesteckten Grenzen der Geschichtswissenschaft übersteigen und Spekulationen von Journalisten über politische Zusammenhänge weit hinter sich lassen. Romane haben die Lizenz zum Erfinden, und im besten Fall geben sie dabei den Anspruch nicht auf, neue Sichtweisen und Zusammenhänge historischer und gegenwärtiger Kontexte zu reflektieren und zu provozieren.

Diese Lizenz zum Erfinden findet sich auch in dem spannenden Roman-Experiment Die Schlüssel Marias (2020), das Jurij Wynnytschuk zusammen mit Andrej Kurkow gewagt hat. Diese beiden großen Geschichtenerzähler haben zusammen eine große Geschichte geschrieben. Es ist freilich – zugegeben – ein Roman, der aus mehreren kleinen Geschichten komponiert ist. Über die Entstehung und einige Motive dieses Romans informieren Kurkow und Wynnytschuk jeweils in ihren hier angehängten Texten, die aus meinen Gesprächen mit den beiden Autoren hervorgingen. Deshalb möchte ich zu diesem Roman nur so viel sagen, dass er mit den vorangegangenen Werken von Wynnytschuk wie Malwa Landa oder Im Schatten der Mohnblüte Einiges gemeinsam hat: Da gibt es das geheimnisvolle Manuskript, das Lemberg resp. Galizien der Zwischenkriegszeit, es finden sich seltsame Menschen und mysteriöse Wesen sowie eine breite Palette meisterhaft eingesetzter stilistischer Verfahren und sprachlicher Kunststücke, und anderseits hat natürlich ein Text, den Andrej Kurkow verfasst, eine bis ins kleinste durchdachte Handlungsführung, wo der Erzähler nichts dem Zufall überlässt. Und selbstverständlich gibt es, was beide Autoren auszeichnet, alle Schattierungen von Humor, von feinsinnig bis derb und eine zuweilen hinterhältige und dann wieder augenzwinkernde Ironie sowie Spannung vom Feinsten.

Dazu möchte ich abschließend auch eine Bemerkung als Übersetzer von Jurij Wynnytschuks Roman Im Schatten der Mohnblüte und anderer Texte loswerden. Während meiner inzwischen doch langjährigen Tätigkeit als Übersetzer hatte ich während des Übersetzungsprozesses selten so viel gegrinst und laut gelacht. Ich habe gelacht über den originellen Humor, gegrinst und mich gefreut über die fröhlich-hemmungs- und tabulose Erzählweise und unglaubliche Fabulierlust des Autors. Dabei brabbelte ich oft die komischen und lustigen Stellen, aber auch derben Passagen beim Übersetzen halblaut vor mir her, dass sich meine Umgebung zuweilen doch wunderte. Es ist tatsächlich die pure Freude Wynnytschuk zu lesen und zu übersetzen.