Descartes’ Dämon. (Auszug)

Als Direktor eines Stahlwerks hat man es nicht leicht. Besonders wenn das Unternehmen einerseits die ganze Stadt ernährt, andererseits gesundheitsgefährdend ist. Irgendwann wirst du eins mit diesem Monstrum und begreifst: Du kannst nicht mehr ohne, es ist Teil deines Lebens. Und wenn dann jemand Andeutungen macht, das Werk könnte geschlossen werden, die Anlagen könnten veröden, und in der einstmals glühenden Stadt, der Stadt der klugen Maschinen und starken Menschen, werde von nun an der Wind pfeifen, – da wird dir unwohl. Du liegst nachts wach, weinst, grübelst. Das tut in der Seele weh! Du kannst ihnen gar nicht in die Augen schauen, den Meistern und Schichtleitern, den Walzern und Buchhaltern, den Mechanikern und Technikern. Die Werksversammlungen werden dir zur Last. Aus Gewohnheit verlangst du Berichte, fluchst sogar, kümmerst dich um jedes Detail des komplexen Produktionsablaufs, und doch lässt dich der nagende Gedanke nicht los – das Werk stirbt! Und wenn du so an deinem Stahlwerk hängst wie Alexandr Degtjarow, dann geht das nicht spurlos an dir vorüber. Das Stahlwerk selbst weist den Ausweg. Wenn du es schon nicht retten kannst, soll es wenigstens nicht umsonst untergehen!

Pragmatisch betrachtet konnte Degtjarjow sehr wohl ohne das Stahlwerk leben. Er war ja nur Manager. Gut bezahlt zwar und versiert, aber eben nur ein Angestellter. Allerdings hatten in diesem Unternehmen schon sein Großvater gearbeitet und sein Vater und sein älterer Bruder. Der war genau in dem Jahr ums Leben gekommen, als Alexander Direktor wurde. Fiel in einen Schachtofen. Als sie ihn endlich rausgezogen hatten, war nicht mehr viel von ihm übrig. Nur verkohltes Fleisch. Die Abdeckklappe hatte sich geschlossen. Natürlich. Das ging ja automatisch, sie öffnete sich immer nur für vierzig Sekunden. Die Gaszufuhr erfolgte auch automatisch.

„Also, so ein Schachtglühofen, fangen wir mal damit an, weißt du eigentlich, was das ist? Hörst du mir überhaupt zu?“ „Ja, ich hör zu! Und ich weiß genau, was ein Schachtofen ist.“ „Ich erklär es dir trotzdem.“ „Meinetwegen. Aber hör auf zu trinken. Denk an deinen Magen.“ „Also ein Schachtofen, das ist so ein Ding, so eine viereckige Grube. Darin wird das Metall erhitzt, bevor es zur Walzstraße geht. Daniil hatte nach Schichtende mit seinen Kollegen noch was getrunken, wie immer halt, und war gerade am Gehen.“ Degtjarjow lächelte und schüttelte den Kopf. „Danja wusste, wann es genug war. Das muss man ihm lassen. So, jetzt war irgendwas mit der Abdeckklappe am dritten Ofen. Die Schichtleiter und Techniker von der neuen Schicht, das waren alles junge Spunde. Rannten nur aufgescheucht hin und her. Anhalten konnten sie den Ofen nicht. Wäre ja Gas-, Zeit- und Geldverschwendung gewesen. Die Kräne waren schließlich in Betrieb. Die nächste Fuhre Metall lag schon bereit und war am Erkalten. Und die Walzstraße? Die konnte man auch nicht anhalten! Die lief ja auch und wartete darauf, den heißen Stahl weiter zu verarbeiten.

Na ja, und dann machte sich Danja da zu schaffen, wo man betrunken nichts zu suchen hat. Er wollte mit einem Brecheisen die Fuge freikratzen, wo der Waggon entlangläuft. Da steckte nur ein Stück Schlacke fest, nichts Dramatisches. Und dann hat die Abdeckklappe das Brecheisen erwischt. Und die hat Danja nach unten gerissen. Mit dem Gesicht vornweg. Ein greller Tod, keine Frage.“ Degtjarjow lachte kaum hörbar. Zoja bekam Gänsehaut. „Eigentlich hat keiner Schuld, wenn man’s recht bedenkt. Da war bloß ein Stück Schlacke in die Rille gerutscht und hat die Abdeckung blockiert. So war das, verstehst du?“

„Ja, natürlich verstehe ich das. Du hast es mir ja schon hundert Mal erzählt. Wie wär’s mit Schlafen?“ „Nö, Zoja.“ Degtjarjow ging zum Couchtisch und goss sich einen Kognak ein. Er lugte zwischen den Vorhängen hindurch und beobachtete er die Sterne, wie sie über den Nachthimmel zogen. Die Wasserkaraffe klirrte beim Einschenken. „Das Schlimmste ist, dass er gar nicht weg ist, dass keiner je von hier verschwindet. Im Prinzip ist es richtig, dass die Behörden das Werk schließen wollen, aber dann geht’s hier allen noch schlechter. Viel schlechter!“

„Wer ist nicht weg? Von wo? Wie meinst du das?“ Zoja drehte sich auf die Seite, knipste die Lampe über dem Bett an und nahm sich eine Zigarette. Degtjarjow setzte sich mit dem Wasserglas aufs Bett und kratzte sich wie wild den Hinterkopf. „Das ganze letzte Jahr über“, sagte er nachdenklich, „ist Danja bei den Schachtöfen gesehen worden. Nicht jede Nacht, aber bei Vollmond oder wenn es am Tag vorher stark geregnet hatte. Immer wenn es abends donnerte, konnten sie sich in der Nacht rund machen!“ Degtjarjow lächelte traurig. „Komisch, als er noch lebte, war er nicht so eine treue Seele.“

„Das versteh ich nicht“, sagte Zoja mit brüchiger Stimme und rauchte ihre Zigarette in zwei Zügen auf, „was für ein Schwachsinn!“ „Das verstehst du nicht, natürlich verstehst du das nicht.“ Degtjarjow machte es sich im Bett bequem, nahm den Aschenbecher vom Nachttisch und steckte sich eine Zigarette an. „Dann sei lieber still, wenn du nichts verstehst.

Das ganze Jahr hat mir gegenüber keiner was erwähnt. Ist ja klar, warum.“ Degtjarjow lachte halblaut. „Stell dir vor, da kommen welche zu mir und erzählen, in der Schachtofenhalle hätte die gesamte Nachtschicht meinen verstorbenen Bruder Daniil Stepanowitsch Degtjarjow gesehen!“ Wieder lachte Alexander leise. „Ich hätte die nicht nur gefeuert, ich hätte ihnen auch noch ordentlich die Fresse poliert! Nicht, dass wir hier in der Gegend keine Geister hätten, aber das ist doch nun wirklich zu viel des Guten!“

„Das ist Schwachsinn.“ Zoja erschauderte. „Deine Stahlarbeiter hätte man schon lange einweisen müssen.“ Ihre Zigarette glühte auf. Die Asche drohte jeden Moment runterzufallen. „Entlassen und einweisen! Oder andersrum!“ „Ach, hör doch auf!“ Degtjarjow schüttelte den Kopf. „Die sind so lange da, die gehören schon zum Inventar, Großvater, Vater, Sohn. Wenn du dir nur allein Petrenko anschaust!“ „Dein Petrenko, der…“ fing Zoja wütend an. „Lass mir den Petrenko in Frieden“, warnte Degtjarjow.

Sie rauchten schweigend.

„Also, Iwan Iwanowitsch, mein Walzmeister, der hat dann zu mir gesagt: ‚Wär gut, wenn Sie sich nachts mal in der Schachtofenhalle sehen lassen, Alexandr Stepanowitsch. Ihr Bruder taucht da immer öfter auf. Und nicht nur da, auch im ersten Abschnitt der Walzstraße. Die Schlosser haben schon Angst, da nachts hinzugehen. Das wird immer schlimmer. Da leidet die Produktion.‘

Ich antworte so: ‚Ich, wieso ich?!‘ Und er erklärt mir: ‚Was soll der denn mit uns? Mit uns spricht er nicht. Er will mit Ihnen reden. Also tun Sie Ihrem Bruder den Gefallen, Alexander Stepanowitsch! Er lässt auch die Finger von Ihrer Frau. Ist auch nicht im richtigen Zustand dafür. Er ist eher gasförmig, wenn man so sagen kann. Und darum geht es ihm auch gar nicht. Treffen Sie sich und legen Sie die alten Fehler ad acta. Tut mir leid, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin. Aber das ganze Kollektiv fleht Sie an. Gehen Sie hin und sprechen Sie mit dem Boten da. Sein Anliegen ist unser aller Anliegen.‘

‚Was meinst du damit‘, frage ich. ‚Alle wissen‘, sagt er, ‚dass das Werk geschlossen werden soll und dass da höhere Mächte im Spiel sind. Offenbar möchte Ihr Bruder Ihnen, dem Betriebsleiter, etwas mitteilen. Wir vermuten, es geht um Präventionsmaßnahmen oder etwas Ähnliches.“

„Unglaublich!“ Zoja kam unter der Decke hervor und schenkte sich Kognak in ein Sektglas ein. „Das ist doch nicht dein Ernst, Alexander. Du hättest sofort einen Arzt rufen sollen. Die Fabrik ist total verseucht. Wie ihr mit euren Leuten da umgeht, ein klasse Betrieb ist das! Eure Arbeiter sehen Gespenster, Wahnsinn! Im Umkreis von 25 Kilometern werden Mutanten geboren, Untote suchen manchmal die Leute heim. Das sind wir schon gewohnt. Aber dass erwachsene Männer in einem Betrieb…“

„Also Iwanowitsch, auf den halte ich große Stücke“, entgegnete Degtjarjow fest. „Und davon bringt mich auch keiner ab. Der hat ’88 aufgehört zu trinken, als die Sowjetunion im Zuge des Genfer Abkommens ihre Truppen aus Afghanistan abgezogen hat. Seitdem hat er nicht einen Tropfen angerührt. Und wenn du die übernatürlichen Auswirkungen deines Ehebruchs nicht akzeptieren kannst, dann ist das einfach nur dumm. Wie viele Jahre ist das jetzt her? Wozu willst du das jetzt noch verstecken…“

„Zwischen Danja und mir ist überhaupt nichts gewesen!“ Zoja sprang auf, rot bis unter den Haaransatz. „Wie alt ist der überhaupt, dieser Iwan Iwanowitsch, 75? Noch älter?“ „Das spielt keine Rolle“, Degtjarjows Ton wurde schärfer, „wenn einer die Wahrheit sagt, tut sein Alter nichts zur Sache.“

„Und woher will er diese Wahrheit wissen?!“ Ihre Stimme rutschte hoch in den Sopran. „Wie kannst du ihm glauben, aber mir nicht?! Wir sind schon seit 27 Jahren ein Herz und eine Seele, Alexander!“ Händeringend stand sie vor ihm. „Wie kannst du so etwas sagen!“

Degtjarjow trank seinen Kognak aus. „Zuerst einmal glaube ich nicht Iwan Iwanowitsch, sondern meinem Bruder. Und Danja muss ich glauben, zumal er der beste Arbeiter war und er nie gelogen hat. Und das hat er auch jetzt nicht nötig.“

Stille machte sich im Zimmer breit. In der Ferne dröhnten die Stahlöfen. Rangierloks hupten einander zu. Unter dem Fenster fuhr eine Straßenbahn vorbei. In der Bar gegenüber sangen Leute russische Revolutionslieder. Rhythmisch tropfte das Wasser von den dicken Aprileiszapfen am Dach auf den Fenstersims.

„Willst du damit etwa sagen, dass du hingegangen bist?“ flüsterte Zoja, die Hand vor dem Mund. „Natürlich“, sagte Degtjarjow und nickte, „was hätte ich denn machen sollen? Ich hab mir ne Flasche genommen und bin hin. Den Arbeitern hab ich gesagt, es gebe eine Wartung. Sie haben die Öfen runtergefahren und ich hab sie weggeschickt. Keiner hat nachgefragt. Wieso auch. Ich kann da schalten und walten, wie ich will, und die Arbeiter wissen doch eh, was los ist. Ich hab mich auf den Schichtleiterplatz gesetzt und bis Mitternacht gewartet. Bin fast eingeschlafen. Ich hab über dich und meinen Bruder nachgedacht.“ Er schüttelte den Kopf. „Glaubst du mir, dass ich damals tatsächlich von nichts wusste?“ Die Tränen standen in seinen Augen, ohne hinunterzulaufen. Zoja wusste nicht, wohin mit sich. „Anscheinend wussten alle Bescheid, sogar Iwan Iwanowitsch, nur ich nicht. Kannst du dir das vorstellen? Wie bescheuert muss man eigentlich sein? Und dann kam mein Bruder. Im Arbeitsanzug, mit ölverschmierten Händen und lächelte. Er setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl und wir haben uns unterhalten.“

„Worüber denn?“ Zoja biss sich auf die Lippen. „Hat er dir erzählt, wer schuld ist und was jetzt zu tun ist?“ „Sowohl wer schuld ist, als auch, was zu tun ist“, nickte Degtjarjow, „und wie ich meinen Frieden finde.“

„Das heißt?“

„Das heißt?“ Degtjarjow zeigte gefährlich die Zähne. „Wir setzen dem Ganzen ein Ende.“ „Wie, dem Ganzen?“ Zoja schaute Alexander Stepanowitsch erschrocken an. „Na, allem!“ Er fuhr mit dem Arm durch die Luft und erwischte den Stoffschirm der Nachttischlampe. Sie fiel scheppernd zu Boden. „Dem Werk, der Stadt, der Provinz! Allem!“ „Was redest du denn da? Vielleicht solltest du lieber schlafen.“ „Schlafen? Wieso denn schlafen, mein Mäuschen?“ Degtjarjow lächelte fiebrig und mitleidig. „Du erfährst hier als allererste, was geschehen wird, und du willst schlafen… was bist du doch bescheuert!“

„Und … was heißt das jetzt“, fragte Zoja vorsichtig, „willst du mich verlassen? Die Scheidung einreichen? Sei doch nicht dumm! Wer wird sich denn so um dich kümmern? Denk doch mal nach, Sanja!“ Zoja streichelte sanft seinen Kopf. „Es stimmt, Daniil und ich hatten mal was miteinander. Ewig lange her. Aber warum sollen wir das wieder ausgraben? Ist doch längst schon nicht mehr wahr… Sanja, bitte, verzeih mir!“ Sie drückte seinen Kopf an ihre Brust und hielt ihn dort eine Weile, als wolle sie den ergrauten Kopf ihres Mannes wärmen. „Daniil war der einzige, mit einem Fremden hatte ich nie was! Dann ist es doch sozusagen in der Familie geblieben. Verzeih mir, Sanja, ich war dämlich! Verzeih mir! Ich bin doch deine Frau.“

„Ist ja gut.“ Degtjarjow runzelte die Stirn. „Spielt auch keine Rolle. Passiert ist passiert. Hör auf zu weinen, Zoja, ich weiß Bescheid. Er war stattlicher, hübscher und anscheinend einfach besserer Mann. Ich hab gestern mit ihm gesprochen und dich sofort verstanden. Selbst jetzt, wo Danja ein Geist ist, ein Untoter, kann er das nicht verbergen, von ihm geht so eine Kraft, so eine Energie aus. Einfach überzeugend! Aber fluchen tut er immer noch“, kicherte Degtjarjow. „Es heißt immer, manches treibt einem erst der Tod aus. Aber das ist gelogen. Wie im Leben so ist man auch im Tod.“

„Überzeugend – wie meinst du das?“ Zoja blickte ihrem Mann besorgt ins Gesicht. „Na, er ist einfach in allem überzeugend!Gerade geht alles den Bach runter: das Land, die Leute, jeder einzelne, hat Danja gesagt. Das liegt alles daran, dass die Provinz Z so ist, wie sie ist. Das kommt von der Schwerkraft! Wenn zum Beispiel irgendwo in Lwiw ein Glas Wodka umkippt, dann verdunstet das nicht, sondern fließt alles hier zu uns runter. Wenn einer einen Stein wirft, zum Beispiel über die Grenze nach Polen, dreht das Ding sofort wieder um! Fliegt über die ganze Westukraine, lässt auch die Zentralukraine in Ruhe, und wo der Stein hinfällt, das ist allen klar. Spuck im Westen auf den Boden – es landet hier.

Aber lassen wir mal den Wodka, das war nur so ein Beispiel. Wenn tatsächlich der Wodka aus dem ganzen Land angeflossen käme, würden wir doch jämmerlich ersaufen. Aber der ganze andere Mist! Frust, Hass, Wut, Angst, Bosheit, weißt du – das ist alles hier, hier bei uns! Depression? Haben wir! Selbstmord? Bitte schön! Alkoholismus, Drogenkonsum? Soviel das Herz begehrt! Laster, Lüge, Zynismus, Verachtung – was, etwa nicht? Willkommen bei uns! Wünschen Sie Betrug, Todesangst, Einfalt, Neid, Skrupellosigkeit, allerlei Aberglaube, Schwermut, Kummer, Verzweiflung? Kommen Sie nach Z! Das ist Ihre Traumstadt! Und über der Stadt die vier Molybdän-Reiter! Das ganze Periodensystem liegt hier im Wind, mit all noch unentdeckten Partikeln. Mutanten werden geboren und treten auf den Plan. Und der Witz ist, das geht jetzt schon so lange, dass niemand mehr sagen kann, warum das jetzt eigentlich so ist und nicht anders.“

Degtjarjow drehte sich zu Zoja um. „Ich hab mich schon oft gefragt wieso. Wir sind doch eigentlich nicht faul, es könnte uns hier gut gehen! Wir haben Fabriken und Minen. Wir haben sogar unsere eigenen Oligarchen und keine importierten. Warum ist alles so beschissen, Leute? Warum? Die Dörfer sterben aus! Die Leute sind bettelarm und bitterböse! In manchen Vierteln traut man sich nachts nicht auf die Straße! Und dann diese Abgase von der Fabrik – in ganz Z riecht es nach Armageddon! Nirgends sonst riecht es so! Nicht in Czernowitz, in Zhytomyr, Wynnyzja, Tschernihiw! In Kiew riecht es nicht, in Lwiw nicht…“ „Da riecht es nach Scheiße“, merkte Zoja an, „die haben ne schlechte Kanalisation.“ „Mag sein“, stimmte Alexander Stepanowitsch zu, „aber das sind nur Kleinigkeiten. Hier bei uns, wie man es auch betrachtet, hier geht es um die Endzeit.

Früher dachte ich, das Problem ist einfach, dass hier keine Russen leben, keine Ukrainer, keine Tataren, sondern irgendein Mischmasch, 150 Völker in einem Sack.“ „Und jetzt siehst du das anders?“ Zoja steckte sich eine Zigarette an, lächelte und setzte sich zu Degtjarjows Füßen. „Ja, jetzt seh ich das anders. Aber allein kommen wir hier nicht raus. Wir müssen ein Fenster durchschlagen!“ „Wohin, nach Russland? Nach Rostow, Krasnodar? Nach Indien?“

„Ins Universum“, schnitt ihr Degtjarjow das Wort ab. „Besser gesagt, in andere Existenzebenen! Und dafür müssen wir Z in die Luft jagen!“ „Ich hoffe doch, du meinst das nicht wörtlich?“ „Ganz und gar nicht“, sagte Degtjarjow. „Um diesen Plan umzusetzen, müssen wir ein paar Atomsprengköpfe zünden, die in den Siebzigern über 700 Meter unter Tage versteckt wurden. Jeder einzelne von ihnen hat eine Sprengkraft von 100 Megatonnen! Und solche Schächte gibt es unter der gesamten Provinz. Stell dir das vor! Vom Dnipro bis zum Don alles in die Luft! Das reinste Chaos! Und dann sehen wir endlich ein anderes Leben! Ein glückliches, gutes, gerechtes Leben. Ein Leben ohne Lügen und Habgier. In dem die Arbeit in der Fabrik beschützt wird. Eine Großukraine von Kiew bis Berlin.“

„Sanja, Schatz, du redest wirr“, fasste Zoja knapp zusammen und schaute ihren Mann an. „Du solltest dich ausruhen.“ „Ich hab das schon mal irgendwo gehört“, fuhr Degtjarjow fort ohne seine Frau zu beachten. „Es hat da mal Tests gegeben, aber die Behörden haben alles geleugnet. Haben uns wohl angelogen, die alten Herren vom Regionalkomitee. Doch Danja, der hat mich drauf gebracht! Er sagt, der Knopf liegt genau unter dem Green Plaza. Dort ist der Sprengkopf, den man zünden muss!“ Degtjarjow gähnte, räkelte sich auf dem Bett und wurde ruhig. „Wir haben insgesamt eine Woche, höchstens zwei oder drei. Sonst wird alles nur schlimmer. Zoja, weck mich morgen, ja? Wobei, vielleicht hat er irgendwas verwechselt? Klingt schon etwas komisch. Fast lächerlich, mein Gott… Aber dieser Sprengkopf, den gibt es! Das glaube ich ganz fest! Und das wird das Ende! Wir jagen alles in die Luft! Wir zielen und drücken ab! Und das verfickte Europa kann endlich beruhigt aufatmen!“

Aus dem Russischen von Stefan Heck