Darina, die Süße

„Maria, die Georginen, von wem habt Ihr die? Die sind so schön voll, und wie die leuchten!“, rief Wasjuta ihrer Nachbarin über den Zaun hinweg zu. „Was hab‘ ich meine gehegt und gepflegt, aber sie sind trotzdem eingegangen. Haben sich eingerollt wie Schnecken, fertig, aus. Wer weiß, wer die unter die Finger gekriegt hat. Oder ob sich Warwara nachts an ihnen zu schaffen gemacht hat? Ob sie eine Hexe ist, Maria, was? Möchte nur wissen, was mit den Blumen los ist. Sie sind hin, was soll man machen, Unkraut, weiter nichts. Wenn sie hoch und voll sind, hab ich sie gern, aber nicht so mickrig“, sagte sie und warf ein Bündel Astern auf den Gartenweg.

„Also, wirklich, die sind schön! Alle kommen und wollen wissen, von wem ich die habe … die werden mir noch die ganze Ernte verderben, toi, toi, toi“, antwortete Maria mit gespieltem Ärger über ihr Beet gebückt. „Ich hab sie von der süßen Darina. Und auch die Lilien und die Rose da. Im Frühling hat sie mir die gebracht.“

„Bevor sie’s wieder so schlimm erwischt hat?“

„I wo, später. Sie hat die ausgegrabenen Knollen durchs Dorf getragen wie ein Kind, das arme Ding. Hat sie in die Decke gewickelt, mit der sie sonst schläft, hat sie an die Brust gedrückt und gewärmt, und als sie damit ankam, hat sie die Dinger ausgewickelt wie ein Kind, wirklich. Das tut einem in der Seele weh, Wasjuta, das kann ich Euch sagen, da hab ich gleich aufgehört, zu zanken mit meinem Slawko, der ist ja wenigstens nicht behindert … hätte ihn doch der Schlag getroffen in meinem Bauch, wie der mir die Tage verhunzt mit seinem Selbstgebrannten. Wär er doch verbrannt damals, Herrgott nochmal … Dass ich Eiterpickel auf der Zunge kriege, was für dummes Zeug ich da rede!“

… im Asternbeet, drei Schritt von Maria und Wasylyna entfernt, saß die süße Darina, flocht und löste ihren Zopf, der schon lange dünn und ergraut war, lauschte dem arglosen Gespräch und lächelte nur leise.

Sie hatten weder Grips im Kopf noch Gott im Bauch, ihre Nachbarn, wenn sie dachten, sie sei dumm. Denn Darina war nicht dumm, süß war sie.

Was war schon dabei, dass sie die Dahlienknollen in eine Decke gewickelt hatte? Es war gerade Schnee gefallen, und der Frost hatte noch nicht nachgelassen. Darina verteilte die Blumen im Dorf, denn sie hatte mehr Knollen ausgegraben, als Erdäpfel in ihrem Keller lagen. Und dann trug sie sie zu den Häusern, vor denen nie Blumen blühten. Hätte sie die Knollen etwa nackt durch die Kälte tragen sollen? Wasjuta trug ihren Enkel schließlich auch nicht bloß in Unterhosen zum Kindergarten, sondern wickelte ihn erst in eine Decke, nahm ihn dann auf und schuckelte ihn durchs Dorf. Was war eine Blume anderes als ein Kind?

Darina saß auf der warmen, fast noch sommerlichen Erde, streichelte die leuchtenden Kränze der Astern, zauste ihre duftenden Strahlen, sprach mit ihnen, erzählte, was ihr in den Sinn kam, lachte – was war daran dumm?

Warum war sie dumm, wenn sie alles verstand, wenn sie wusste, was wie hieß, welcher Tag heute war, wie viele Apfelbäume bei Maria im Garten standen, wie viele Leute von Weihnachten auf Weihnachten geboren worden und wie viele gestorben waren? Im Gemeinderat mussten sie für so viel Verstand erst in einem Buch nachschauen, aber Darina hatte das alles im Kopf. Mit den Hühnern konnte sie besser reden als mit Menschen. Die Bäume verstanden sie, die Hunde ließen sie in Ruhe, die Menschen nicht. Die Menschen konnten sie nicht für sich sein lassen.

Aber mit den Menschen wollte Darina nicht reden. Sie würden ihr womöglich etwas Süßes geben.

Was sollte man darüber nachdenken, da war ja nichts. Die Leute im Dorf machten manchmal Sachen, dass sich sogar Darina an den Kopf griff, und trotzdem wurden sie von niemandem für dumm gehalten. Aber von ihr, die mit Bäumen und Blumen sprach, in den Tag hinein lebte und niemandem schadete, hieß es, sie sei dumm.

Und wenn sie nun wirklich dumm war, wo sie doch gar nicht aussah wie behindert?

… Einmal hatte Fedjo seinen Schafbock gesattelt und seinen Sohn darauf zur Schule gebracht, und da hatte keiner gesagt, dass Fedjo dumm sei, obwohl sein Sohn dann ein für alle Mal „Bock“ gerufen wurde.

Zu Kirchweih kam Stepan einmal aus der Stadt und brachte eine riesige glänzende Eisenscheibe mit. Vor dem Klubhaus standen die Burschen und wollten wetten, Stepan setzte eine Flasche Bier, er könne die Scheibe über seinen Lümmel ziehen und nach einer halben Stunde wieder abziehen, ohne dass seinem Lümmel was passierte. Aber der Lümmel in seiner Hose gehorchte Stepan nicht, schwoll an und wäre beinahe geplatzt. Also musste Dmytro, der Gasschweißer, kommen und die Scheibe an Stepans Gemächt aufsägen. Das dauerte, die Hände zitterten ihm, er wollte ja Stepans Stolz nicht verletzen, schließlich würde er bald heiraten. Das ganze Dorf lachte und bedauerte ihn, aber keinem fiel es ein, ihn dumm zu nennen.

Die Leute im Dorf dachten, Darina verstünde nicht, dass sie süß sagten, obwohl sie dumm meinten.

Einmal war Marias Sohn Slawko so betrunken, dass er ein Ferkel aus dem Stall holte, ihm zwanzig Messerstiche versetzte, es in den Teich vorm Haus warf und allen am Hof verbot, sich dem Wasser auch nur zu nähern. „Lasst das Sauvieh schwimmen!“, schrie der betrunkene Slawko, dass man es überall hörte. „Wer nicht auf mich hört, fliegt selbst in den Teich und fängt Frösche!“ Zwei Tage lang trieb der Läufer auf dem Wasser, der Sommer war heiß, es stank, aber keiner auf Slawkos Hof erbarmte sich der toten Seele, alle hatten sie Angst vor dem betrunkenen durchgedrehten Hausherrn.

Darina wartete, bis sich alle verzogen hatten, nahm eine Mistgabel, holte einen neuen Kuhstrick aus Slawkos Stall, schleppte einen Stein vom Fluss herbei, zog das Ferkel mit der Mistgabel ans Ufer, band ihm den Stein um, schlug ein Kreuz – und schon versank das sinnlose Schlachtopfer im Wasser.

Abends wütete Slawko auf dem Hof, er knirschte mit seinen fauligen Zähnen und brüllte Darina wie ein Stier über den Zaun hinweg an: „Eh, dumme Darina du, willst du ein Gutzi? Hier! Hier hast du ein Gutzi! Hier!“, und warf ihr eine Handvoll Fruchtzuckerl vor die Haustür.

Das Gutzi hätte er besser nicht erwähnt. Kein vernünftiger Mensch im Dorf erwähnte es oder gab Darina Süßes. Jeder wusste, dass sie von Süßem Kopfweh bekam und arg brechen musste. So arg, dass am nächsten Morgen kein Funke Leben mehr in ihr war. Und dass sie dann eine ganze Woche brauchte, um zu sich zu kommen, als kehrte sie aus dem Jenseits zurück.

So war es auch nach Slawkos Worten.

Zwei Tage verließ Darina das Haus nicht – ihr Kopf schmerzte so sehr, dass sie nicht einmal zur Decke schauen konnte. Sie wickelte ihn in Tücher, deckte sich mit einem Kissen zu und drehte sich zur Wand. Sie aß nicht, trank nicht, ging nicht auf den Abort, sondern wartete, dass die Eisenringe zersprangen, die ihren Kopf zusammenpressten, als wollten sie ihn zerquetschen.

Ein paar Mal schaute Maria bei Darina vorbei. Sie stellte ihr schweigend einen halben Liter Milch auf den Tisch, wickelte die Tücher ab und rieb ihren Kopf mit Dachsfett ein. Obenauf legte sie ein Kohlblatt, darauf eine Handvoll roher Wolle, und dann wickelte sie den Kopf wieder in ein weißes Tuch.

Darina, matt, ganz und gar kraftlos, schmächtig geworden wie ein Kind, ließ sich wortlos wenden, setzte sich dann auf und legte den Kopf auf die Knie, während Maria sie mit kühlen Händen massierte. Sie brachte nicht das leiseste Wörtchen heraus. Ihr Kopf wollte fortlaufen, sie musste ihn festhalten, als wollte sie ihn gegen einen Dieb verteidigen. Wäre der Dieb nur so nett und riefe einen Metzger oder wenigstens Semen, der den Leuten immer die Schweine abstach, damit Semen Darina den Schmerz aus dem Kopf herausschneide, ihr wäre geholfen und sie würde vielleicht endlich reden.

Ein Dieb war freilich nicht in Sicht, nur ein unerträglich scharfes Messer zackerte unter ihrem Schädel, vor lauter Verzweiflung würde sich Darina ihren Kopf jetzt am liebsten abhauen lassen. Sie konnte diesen unendlichen Schmerz nicht mehr ertragen. Sie ertrug nicht einmal, dass Maria am Tisch leise weinte und schniefte. Würde Maria doch nur zu ihrem Slawko gehen oder zu sonst wem und sie nicht mit ihrer Schluchzerei quälen. Jeder Schluchzer klang für sie wie ein Hammerschlag in einer Zigeunerschmiede. Darina drückte sich noch näher an die Wand und wollte nichts als Stille und Ruhe.

So war es jedes Mal, wenn Darina der Schmerz peinigte. Maria weinte ein Weilchen, brummelte etwas vor sich hin und ging ihrer Wege. Darina blieb samt ihrem Kopf, der vor Schmerz zu zerspringen drohte, im leeren Haus allein, bis irgendetwassie ins Herz stach, dann stand sie auf und ging aufs Geratewohl los.

… Dieses Mal trugen ihre Beine sie von selbst zum Fluss. Darina stieg bis zu den Knien ins Wasser und spürte, dass es ihr sofort besser ging. Das kalte Wasser strömte durch sie hindurch und verschwand hinter dem Horizont, Darina schaukelte mit geschlossenen Augen hin und her, und fühlte, wie sich die Reifen lösten, die ihren Kopf zwei Tage lang zusammengepresst hatten. Irgendwo tief in ihrem Inneren zersprangen sie, so laut, dass Funken in den Fluss zu regnen schienen, aber Darina hielt ihre Augen geschlossen, denn sobald sie die Augen öffnete, würden sich die Reifen sofort wieder um ihren Kopf legen wie die Schlangen, die am Heiligkreuztag ihre Winternester in der Erde bauten.

Wenn Darina Kopfschmerzen hatte, musste sie zum Fluss gehen und hüfttief ins Wasser steigen. Sonst würde der Schmerz sie in kleine Stücke reißen. Im Sommer, wenn das Wasser warm war, ging das. Dann hinderte sie niemand daran, im Wasser zu stehen. Wenn der Frost kam, stieg sie nur knietief hinein. Je kälter das Wasser war, umso schneller ließ der Schmerz von ihr ab.

Als Darina nach einer mehrtägigen Schmerzattacke zum ersten Mal spürte, dass sie kaltesWasser brauchte, starrte sie lange in den Brunnen auf ihrem Hof. Aber das Wasser war tief unten, und Darina hatte keine Leiter, die lang genug war. Die Leiter vom Hühnerstall war längst morsch und würde nicht bis auf den Grund reichen. Da wankte Darina, ihren Kopf fest zwischen beiden Händen, als wollte er gleich vom Hals rollen, zum Fluss, mit ihrem Schlängelgang verschreckte sie die Dorffrauen in ihren Gärten. Als sie mit ihren nackten Beinen langsam ins Wasser stieg, lief fast die halbe Nachbarschaft zusammen.

„Heilige Maria, die will sich ertränken! Maria, Ihr müsst sie fesseln, außer Euch lässt sie doch niemanden an sich heran“, rief Langfinger Warwara Darinas Nachbarin vom Ufer aus zu und wedelte mit einer Wäscheleine.

Maria sah lange zu, wie Darina bis zur Brust im Wasser mit geschlossenen Augen hin und her schaukelte, schließlich sagte sie leise: „Lassen wir sie … Sie wird sich schon nichts antun. So Gott will. Wir brauchen sie nicht zu fesseln, Warwara. Nehmt Ihr lieber Eure Zunge fest an die Leine … Geht nach Hause, Frauen, ich bleibe noch ein bisschen bei der süßen Darina sitzen, bevor ich dann zu meinem Irren heimgehe.“

Seitdem ging niemand mehr mit Darina zum Fluss. Auch sie würde nicht hingehen, höchstens um die Wäsche zu spülen. Die Wäsche war das eine, aber der Kopf war wichtiger. Also lief sie, wenn sie die Schmerzanfälle aus dem Bett trieben, zum Fluss, und keiner hielt sie mehr an der Hand, die Frauen schauten ihr höchstens nach, die Hände über den Augen, und manchmal lachte ein Schüler leise: „Schau da, die süße Darina geht wieder baden.“ Wofür er sich eine Ohrfeige von einem anderen Schüler fing, der etwas mehr im Kopf hatte.

Solange der Fluss nicht zugefroren war, ging alles gut. Das erste Mal, als Darina das Eis betrat und es nicht einbrach, wollte sie es mit dem Kopf durchstoßen, denn sie musste in das eisige Wasser eintauchen, und wenn es ihr Leben kostete. Sie kniete nieder, schlug mit der Stirn ein-, zweimal gegen das Eis und heulte leise auf. Das Eis war hart und gab nicht nach. Darina lief mit nackten Füßen auf dem Eis herum, sie trampelte mit ihren vom tagelangen Liegen müden Beinen, als wollte sie Ton stampfen, und rang vor Verzweiflung die Hände.

Bis plötzlich, als wäre er ihr gefolgt, Marias Slawko da stand. Darinas
Kopfschmerzen waren augenblicklich verflogen: Slawko war nüchtern. Es schien ihr, als hätte sie ihn ihr Lebtag nicht nüchtern gesehen, höchstens als Kind, und jetzt lief er mit zitternder, ausgestreckter Hand geradewegs auf sie zu. Sonst nicht auf’s Maul gefallen, schwieg Slawko diesmal, als wäre er stumm.

Darina streckte ihm ebenfalls die Hand entgegen.

So liefen sie am Ufer entlang, die Hände nacheinander ausgestreckt, als zögen sie zur Hochzeit oder wären aneinander gekettet. Slawko sparte sich dieses Mal jeden dummen Kommentar, er gab überhaupt nichts von sich, und Darina folgte ihm brav, die Winterkälte spürte sie nicht.

Slawko ging mit Darina zu dem kleinen warmen Teich mit ein paar Quellen, die nimmermüde aus der Erde schossen, er lag hinter einem Pfahlzaun aus entlaubten Uferweiden. Vor Darinas Augen sprudelte sauberes Wasser, und den Rock ungeniert bis zum Nabel geschürzt stieg sie in das üppige Gluckern.

Als sie ans Ufer trat, war Slawko weg. Aber sie fand auch allein nach Hause zurück.

Auszug aus dem Roman (S. 5-13)

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